Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der nicht geboren wurde

Der Mann, der nicht geboren wurde

Titel: Der Mann, der nicht geboren wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
Vom Netzwerk:
zu, und
er stürzte durch mehrere Traumebenen abwärts, bis er in einer von ihnen hängen
blieb.
    Dieser Traum war in merkwürdige Farben getaucht. Alle Dunkelheiten
leuchteten in einem matten Rostrot, wohingegen alle Lichtbereiche einen
kränklichen, grünlich-blauen Stich besaßen. Rodraeg glitt, scheinbar fußlos
schwebend, aus seiner Kammer und in einer schwindelerregenden Kreisbewegung von
der Oberstiege gleich auf die Kellertreppe und hinab und hinab. Mit sicheren
Fingern tastete er in absoluter Finsternis nach der versteckten Nadel, bis
seine Rechte sie fest umfasste. Die Nadel war ein Zepter, ein Anker, ein
Leuchtturm, ein Zauberstab, ein Musikinstrument, ein Schlüssel, ein Schwert,
ein austreibender Ast, ein Wasserstrahl, ein zahmer Jagdfalke, ein Knochen, ein
Hammer und ein Rührlöffel. Rodraeg schwebte wieder aufwärts ins Erdgeschoss und
von dort aus nach hinten auf den vernichteten Garten hinaus. Schatten waberten
rostrot. Der Mond und sein Licht bluteten Grünspan. Einen kurzen Blick konnte
Rodraeg erhaschen auf den rückwärtigen Wachtposten, der schlaff in seinem
Obstbaum hing wie daran aufgeknüpft. Rodraeg überwand Mauern, lautlos und
behände wie ein Affe. Dann hastete er durch die Stadt, lediglich mit einem
Lendentuch bekleidet, so, wie er sonst zu schlafen pflegte. Die Straßen
menschenleer, und wenn nicht, wenn Einsame entlanggetorkelt kamen oder Eilige
auf dem Weg nach Hause, dann wich Rodraeg aus, spielerisch, einem Tänzer
gleich. Zog sich zurück ins Rostrot und ließ den anderen passieren. Alle Häuser
waren matt und unscheinbar, Bühnenkulissen ohne Eigenleben. Ihn zog es hin zu
einem ganz bestimmten Ziel, einem einzigen bedeutsam pulsierenden Raum in einer
Theaterwelt der Unbeträchtlichkeit. Geister schliefen ringsumher. Geister
wisperten mit fernen Stimmen. Rodraeg erkannte das Badehaus, sah es rostrot
vorüberwabern. Er war schnell. Er war zehn bis zwanzig Jahre jünger.
    Jetzt tauchte das riesige Krankenhaus der Heleleschwestern auf wie
eine Welt hinter der Welt. Ein steinerner Wal, der aus einem Stadtmeer tauchte
und Rauch hinaufschnaubte ins Firmament. Bläulich blakten Fackeln und Laternen
hinter stetig summenden Durchbrüchen. Doch der Weg führte nicht in dieses Haus,
sondern von hier aus nach rechts, hinunter ins Getümmel der Kulissen. Häuser
dicht an dicht, Gassen dazwischen, Höfe, hier und dort ein unzertrampeltes
Gartenbeet. Die Nadel war ein Leitstern, eine Stimmgabel, ein Horn, ein
Trichter, ein Mammutrüssel, ein Blitz, ein Baum, ein Brand, ein Funke, ein
Wellenkreis in einem See, ein Pfeil, ein Herz, eine Flagge, eine Krone, ein
Palast, ein Berg, ein freier Adler, ein Spiegeln des Adlers im Wasser, ein Aal
unter der Oberfläche. Rodraeg blickte hinauf zu einem Fenster im zweiten Stock.
Vorhänge bauschten sich träge im Nachtwind. Dort, dort pulsierte das Beben.
Rostrot in rostrot nun alles ringsum. Rodraeg klemmte sich die Nadel zwischen
die Zähne wie ein Pirat, ergriff die Ranken eines Efeuweins und die Fugen einer
Mauer und kletterte hinauf zum Fenster, lautlos, geschmeidig. Noch einen Ast
und noch einen Ast und immer noch einen Ast, bis der hübsche, wohlfrisierte
Knabe sich nicht mehr heruntertrauen würde von dem sehr, sehr hohen Baum.
Rodraeg musste grinsen über diese Traumerinnerung, aber er verlor die Nadel
nicht aus dem Mund.
    Er glitt in das Zimmer wie ein Fisch in einen Teich. Nahm die Nadel
zwischen den Zähnen hervor und näherte sich barfuß dem Bett mit dem schlafenden
Mann. Dort, dort pulsierte das Beben. Das Zimmer, die Einrichtung, die
gespensterhaften Vorhänge: Alles war rostrot in rostrot. Der Kopf, der Kopf war
das Ziel. Der Kopf des pulsierenden Mannes. Rodraeg hob die Nadel – und rammte
sie dem Liegenden von unten durch den Gaumen in den Schädel.
    PING!
    Ein hohes, metallisches Geräusch unterbrach die Abfolge der
Ereignisse. Verwirrt machte Rodraeg zwei Schritte zurück. Die Nadel war noch
immer in seiner Hand, schmerzhaft starr, war nicht eingedrungen in den Kopf.
Das »Ping« pflanzte sich fort, dröhnte weiter und weiter, verstärkte sich in
Echo und Hall bis zur Stärke einer ganzen Musikkapelle, bis alles Sein nur noch
aus diesem Geräusch bestand. Der schlafende Mann drehte sich herum, schnellte
aus dem Bett und zog mit einer fließenden Bewegung einen Säbel, der im Geschirr
über dem Bettpfosten gehangen

Weitere Kostenlose Bücher