Der Mann der nicht zu hängen war
verschwindet wieder.
Um 12 Uhr 22 bekommt der Gouverneur endlich die Antwort aus Paris. Das Telegramm ist eindeutig: »Wahlen wichtiger als Vulkan. STOP. Verlasse mich darauf, daß Sie für einen normalen Ablauf der Stichwahl sorgen. STOP. Danach grünes Licht für erforderliche Maßnahmen. STOP. Der Minister.«
Wirklich eine tolle Antwort. Die haben vielleicht Nerven in Paris! Was soll er nun machen? Auf alle Fälle muß er dem Bürgermeister Bescheid geben.
Um 12 Uhr 30 speist der Pfarrer mit den Nonnen, die fluchtartig das Kloster am Fuß des Vulkans verlassen haben, und er spricht das »Lobet den Herren«.
Keiner spricht es für den Gefangenen, der allein in seinem Verlies tief unten im Keller des Gefängnisses sitzt.
12 Uhr 50. Der Fabrikdirektor setzt auf seinem Schiff die Segel. Seine Frau und sein Kind verlassen gerade das Haus. Die Arbeiter das Fabrikgelände. Urplötzlich ein entsetzlicher Auf schrei: »Der Berg! Der Berg kommt runter!« Monsieur Guerin schaut erschrocken auf und muß sehen, wie ein riesiger Lavastrom auf seine Fabrik zustürzt: »Rennt, rennt so schnell ihr könnt!«
Und alle rennen, wenigstens einige Sekunden lang: die Arbeiter, seine Frau, sein Kind. Doch die Lava verschlingt sie alle, die ganze Fabrik. Vor dem Meer hält der mörderische Strom an. Gleich darauf tost eine riesige Sturzwelle heran, und das Schiff des Direktors zerschellt. Er selbst ist noch am Leben, aber von seiner Frau, seinem Kind, seinen Männern, seinem Haus, seiner Fabrik ist nichts mehr zu sehen. Nur noch eine schwarze, qualmende Landschaft. Und alles ist still.
Der Vulkan hat sich sofort wieder beruhigt, als ob nichts geschehen wäre. Und in der Stadt — nur zwei Kilometer entfernt — weiß noch niemand, daß gerade 32 Menschen verkohlt sind. In diesem Augenblick sind alle sieben Bürger, deren Schicksal wir verfolgen, noch am Leben. Der Journalist, der noch nicht weiß, was sich bei der Fabrik zugetragen hat, kabelt an seine Zeitung: »Sehr starker Erdstoß. Dreißig Meter hohe Flutwelle.« Dann rennt erzürn Rathaus und kommt etwa zur gleichen Zeit an wie der Lehrer.
»Herr Bürgermeister! Sie müssen jetzt was tun! Ist die Antwort des Gouverneurs schon eingetroffen?« ruft er in die Runde.
»Ja«, erwidert dieser mit gewichtiger Würde. »Es heißt: keine Panik. Bevölkerung beruhigen. Keine Evakuierung vor der Stichwahl. Danach dürfen wir jede Entscheidung selber treffen.«
»Aber, aber, das ist doch einfach verrückt!«
»Vielleicht. Aber Paris hat so entschieden!«
»Paris! Paris!« ereifert sich der Journalist. »Die Leute hier pfeifen auf die Wahlen! Herr Studienrat, sagen Sie doch was, um Gottes willen!«
»Seit Tagen sage ich was!« schreit dieser nun aufgeregt. »Und zwar, daß die Stadt sofort evakuiert werden muß! Hören Sie? Sofort!«
»Aber der Gouverneur...«
»Der Gouverneur! Wo bleibt er denn? Warum ist er nicht hier?«
»Er kann auch nur das machen, was Paris entscheidet!« meint der Bürgermeister nun etwas kleinlaut.
»Herr Bürgermeister, Sie müssen jetzt wenigstens eine Erklärung abgeben!« fordert der Journalist.
»Ich weiß. Ich habe sie schon fertig. Also, schreiben Sie folgendes in Ihrer Zeitung: >Kein Grund zur Panik. Der Vulkan hat sich beruhigt<.«
Sonntag, 4. Mai. Trotz der aufschlußreichen Erklärung des Bürgermeisters greift Panik in der Stadt immer mehr um sich. In der überfüllten Kirche predigt der Pfarrer zum Thema: »Vergiß nicht, daß du Staub bist« — tröstende Worte fürwahr!
Montag, 5. Mai. Vom Vulkan her hört man jetzt ein ständiges bedrohliches Donnern. Dampfwolken und Schwefelrauch hängen über der Stadt. Noch einmal beschwört der Lehrer den Bürgermeister: »Monsieur Fouche, Sie müssen die Stadt evakuieren lassen!«
»Kommt nicht in Frage. Erst, wenn der Gouverneur es anordnet!«
»Der Gouverneur! Der Gouverneur! Er ist wohl der liebe Gott in Person? Lassen Sie ihn wenigstens sofort hierherkommen, damit auch er das Zittern lernt. Übrigens, wissen Sie noch nicht, daß in der ganzen Stadt bereits geplündert wird?«
»Gewiß. Gerade deswegen will ich es nicht noch schlimmer kommen lassen. Was glauben Sie denn, was bei einer Evakuierung los wäre?«
Dienstag, 6. Mai. Vor dem Beichtstuhl des Pfarrers gibt es Gerangel. Frauen und Kinder zuerst.
Der Fabrikdirektor, halb wahnsinnig geworden, seitdem er zusehen mußte, wie seine Familie von der Lava verschlungen wurde, schreit den Leuten zu: »Schnell! Haut ab! Laßt alles liegen und
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