Der Mann der nicht zu hängen war
verbringt den ganzen Tag damit, Besucher zu empfangen. Der Gefangene verbringt den ganzen Tag damit, auf den Wärter zu warten. Der Lehrer hält seinen Schülern einen Vortrag über Vulkanausbrüche: »Ihr braucht nur aus dem Fenster zu schauen, Kinder, da seht ihr, wie so etwas vor sich geht.«
Und der Pfarrer verbringt den ganzen Tag im Beichtstuhl. Seitdem der Vulkan nun auch noch Steine herausschleudert, stehen besonders die älteren Frauen Schlange in der Kirche. Man kann ja nie wissen. Donnerstag, 1. Mai: Der Vulkan raucht und raucht, aber das Meer ist ruhig und das Wetter sehr schön. Für den Journalisten gibt es nichts Besonderes zu berichten. Die Bevölkerung scheint sich auch langsam daran zu gewöhnen, daß ein Vulkan nun mal gelegentlich raucht und spuckt. Viele Menschen auf dieser Insel besitzen ein kleines Boot. Und an diesem Tag fahren sie auf das Meer hinaus, um dieses schöne, ungewöhnliche Naturereignis aus der Ferne zu betrachten. Der Generaldirektor mit Frau und Kind ist auch dabei. Er fotografiert sogar. Ein wunderschöner Anblick! Aber es sieht aus, als ob sich da jetzt auch noch ein zweiter Krater gebildet habe.
Joseph Jean-Marie in seiner dunklen Zelle dagegen ist der einzige, der diesen herrlichen Tag nicht genießen kann.
Der Gouverneur ist immer noch nicht in der Stadt. Warum sollte er auch kommen? Vulkan hin, Vulkan her — er hat schließlich Wichtigeres zu tun.
Am Freitag, dem 2. Mai, schreibt der Journalist auf Seite 2: »Wir machen unsere Leser darauf aufmerksam, daß am kommenden Sonntag, dem 4. Mai, ein von der Zeitung organisierter Wandertag stattfindet. Ziel ist der Krater des Vulkans. Treffpunkt: 15 Uhr am Markt.«
In der Nacht von Freitag auf Samstag spürt es Joseph Jean-Marie in seinem tiefen Kerker ganz deutlich: Die Erde bebt. Es grollt und donnert. Er ruft, hämmert gegen die Tür. Doch niemand kommt.
Gegen zwei Uhr nachts bricht Panik in der Stadt aus: Der Berg faucht wie ein Drache. Es blitzt von allen Seiten.
Die meisten Menschen rennen zur Kirche, wo der Pfarrer sie alle erst einmal das Glaubensbekenntnis sprechen läßt. Der Generaldirektor bleibt in seiner Villa und versucht, seine Frau zu beruhigen: »Sollte es wirklich schlimmer kommen, so haben wir immer noch Zeit, die hundert Meter bis zu unserem Boot zu laufen. Und auf dem Meer sind wir dann ja ganz sicher.«
Monsieur Fouche, der Bürgermeister, entschließt sich jetzt doch, mitten in der Nacht, ein Telegramm an den Gouverneur zu schicken: »Vulkanausbruch besorgniserregend. STOP. Panik in der Bevölkerung. STOP. Erwarte Anweisungen. STOP.« Und er wartet auf die Antwort. Er wartet den ganzen folgenden Tag zusammen mit den Stadträten, die sich zu einer Krisensitzung versammelt haben. Auch der Lehrer ist dabei. Und zum ersten Mal scheint man ihn ernst zu nehmen:
»Was meinen Sie?« fragt man ihn. »Was sollen wir tun?«
»Wenn wir nicht wie die Einwohner von Pompeji enden wollen, sollten wir sofort die Stadt evakuieren lassen. Verstehen Sie? Sofort!«
»Aber wissen Sie überhaupt, was das heißt? Erstens kann eine solche Entscheidung nur der Gouverneur treffen. Und dann stellen Sie sich mal vor: 32 000 Menschen zu evakuieren! 32 000! Noch dazu mitten im Wahlkampf eine Woche vor der Stichwahl. Undenkbar!«
Warum antwortet der Gouverneur nicht endlich? Worauf wartet er denn noch? Wahrscheinlich hat er Anweisungen aus Paris angefordert — und da kann man lange warten!
Es stimmt. Der Gouverneur hat den Schwarzen Peter weitergegeben. Er hat seinerseits an das Kolonialministerium in Paris telegraphiert: »Vulkanausbruch besorgniserregend. STOP. Panik in der Stadt. STOP. Erwarte Anweisungen. STOP. Gouverneur Moutet.« Soll der Minister doch selbst entscheiden. Aber Paris ist weit. Sehr weit. Außerdem ist es Samstag, als das Telegramm eintrifft. Der Minister wird gesucht. Unterdessen verhandelt der Fabrikdirektor am Fuße des entfesselten Vulkans mit seinen Arbeitern: »Also, ihr wollt heute nicht arbeiten? Gut. Das kann ich verstehen. Mir geht es nicht anders. Ich werde das Wochenende mit meiner Familie auf dem Schiff verbringen und so wie wir alle einfach abwarten. Und am Montag früh sehen wir uns wieder, wenn sich die Lage nicht verschlimmert hat. Einverstanden?«
An diesem Samstag, gegen Mittag, fragt Joseph Jean-Marie seinen Wärter, der ihm Brot und Wasser durch das Guckloch reicht: »Was war denn heute nacht los? War das ein Erdbeben?«
»Kümmere dich nicht darum!« antwortet der Wärter und
Weitere Kostenlose Bücher