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Der Mann der nicht zu hängen war

Der Mann der nicht zu hängen war

Titel: Der Mann der nicht zu hängen war Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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unwahrscheinlich vorkommt, beginnt er diskret zu ermitteln. Seine Untersuchungen führen ihn sehr bald nach Großwardein, wo das Gerücht aufgekommen zu sein scheint.
    »Das stimmt«, erklärt ein Kaufmann der Stadt, »ich habe von dem Attentat schon am Morgen des 28. gehört, obwohl es doch erst am Nachmittag stattgefunden hat.«
    »Eine Dame hat mir davon erzählt«, berichtet ein Bibliothekar. »Sie sagte mir: >Erzherzog Franz Ferdinand soll heute in Sarajewo ermordet werden, haben Sie auch schon davon gehört?<«
    Kurz darauf stattet der ungarische Polizeibeamte jener Dame einen Besuch ab. Und zu seiner großen Überraschung zeigt sie sich sehr amüsiert: »Ich glaube, Sie sind über den Ursprung dieser Gerüchte völlig im Irrtum. Es handelt sich dabei keineswegs um ein Komplott. Die Gerüchte entstanden schlicht und einfach durch einen Traum.«
    »Durch einen Traum?«
    »Ja, durch einen warnenden Traum, eine prophetischen Traum, wenn Sie so wollen.«
    »Wie bitte? Irgend jemand soll geträumt haben, daß Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo ermordet wird? Wegen eines Traumes kommen solche Gerüchte auf, die auch noch ernst genommen werden?«
    Nun, der Polizeibeamte ist zwar ganz sicher ein gläubiger Mensch, aber bestimmt kein leichtgläubiger: »Und wer hätte das geträumt, bitte?«
    »Ich habe die Geschichte von meinem Mann erfahren. Es wäre mir lieber, wenn Sie ihn selbst fragen.«
    Der Ehemann indes fühlt sich genötigt und lehnt schließlich ab: »Es ist einer meiner Freunde, der diesen Alptraum in der Nacht vom 27. zum 28. Juni gehabt hat. Ich glaube, ich habe nicht das Recht, seinen Namen preiszugeben.«
    »Nun ja. Vielleicht können Sie mir wenigstens sagen, wann er Ihnen davon erzählt hat.«
    »Wann? Am selben Morgen. Gegen zehn Uhr.«
    »Also vor dem Attentat?«
    »Ja, ja, etwa vier Stunden davor — und mit allen Details. Er hat diesen Traum übrigens auch schwarz auf weiß niedergeschrieben.«
    »Wie? Er hat alles aufgeschrieben?«
    »Ja. Und außer mir hat er es noch zwei oder drei weiteren Leuten zu lesen gegeben.«
    Erst der vierte Zeuge gibt nach etlichem Zögern den Namen preis: »Es ist der Bischof von Großwardein. Joseph von Lanyi, der diesen Traum hatte. Er war vollkommen überwältigt, und ich sollte unbedingt davon erfahren.«
    »Bischof Joseph von Lanyi? Aber war er nicht der Erzieher der Kinder des Erzherzogs?«
    »Ja, sicher. Und davor auch der von Franz Ferdinand selbst. Er hat ihn im Ungarischen unterrichtet. Sie blieben einander freundschaftlich verbunden und haben sich sehr geschätzt.«
    »Gibt es noch mehr Zeugen?«
    »Bestimmt gibt es noch ein paar. Jedenfalls kann ich bezeugen, daß der Bischof in meiner Gegenwart einen Brief an seinen Bruder, Professor Eduard von Lanyi in Fünfkirchen, abgefaßt hat, in dem alles ganz genau geschildert wurde. Ich nehme an, der Professor besitzt den Brief noch, und ich schwöre, er wurde noch an dem Morgen vor dem Attentat zur Post gebracht.«
    Im Haus des Bischofs trifft der Polizeibeamte zunächst dessen Mutter an. Sie bestätigt: »Mein Sohn hat mich ganz aufgeregt kurz vor acht Uhr geweckt. Er war blaß und erzählte mir, er habe einen so furchtbaren Alptraum gehabt, so deutlich, so glaubhaft — und auch so schwerwiegend, daß er ihn nicht für sich behalten wolle. Er brannte so sehr darauf, sich mitzuteilen, daß er mich bat. Eine alte Freundin unseres Hauses aus Komlo, die gerade bei uns zu Besuch war, aus ihrem Zimmer zu holen.«
    Und endlich steht der ungarische Polizeibeamte vor dem Bischof. liier sein Bericht, die Schilderung seines Traumes, wie den Polizeiakten zu entnehmen ist:
    »Es war gegen drei Uhr morgens, als ich diesen Alptraum hatte. Ich sah mich hier im Zimmer. Es war ein schwach sonniger Morgen. Als ich Einen Blick auf meine Korrespondenz warf, die mir mein Sekretär gerade vorgelegt halte, sah ich obenauf einen schwarz-umrandeten Brief mit dem Siegel und dem Wappen von Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Ungarn. Ich erkannte sofort die Schrift seiner Kaiserlichen Hoheit, meines unvergeßlichen Freundes. Ich öffnete den Umschlag. Ein Teil des Briefes sah aus wie eine Ansichtskarte — eine Straßenecke, wo eine enge Gasse in eine breitere Straße mündet. Die Hoheiten saßen einem General gegenüber in einem offenen Automobil. Neben dem Chauffeur ein Offizier. Aus der Menge, die von beiden Seiten herandrängte, sprangen zwei junge Leute heraus, stürzten nach vorn und zielten mit einer Pistole auf die

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