Der Mann der nicht zu hängen war
Hoheiten. Und unter dieses so lebhafte Bild hatte der Erzherzog mit nervöser Schrift ein paar Worte an mich geschrieben, die sich meinem Gedächtnis eingeprägt haben:
>Euer Gnaden, mein lieber Lanyi!
Ich möchte Sie wissen lassen, daß ich heute in Sarajewo zusammen mit meiner Frau einem politischen Mordanschlag zum Opfer fallen werde. Wir bitten Sie, sich auch in Zukunft, wie bisher, in Liebe und Treue unserer Kinder anzunehmen.
Wir grüßen Sie von ganzem Herzen.
Der Ihre
Erzherzog Franz
Sarajewo, 28. Juni 1914 — 3.30< «
Der Polizeibeamte zeigt sich zwar beeindruckt, aber keineswegs verwirrt: »Euer Exzellenz, ich zweifle nicht an Ihrer aufrichtigen Überzeugung, aber Sie erzählen mir da einen Traum...«
»Einen Alptraum!«
»Ganz recht, einen Alptraum. Aber einen Alptraum, der über zwei Jahre alt ist! Wäre es da nicht nur allzu begreiflich, wenn die Ereignisse, die sich in Sarajewo tatsächlich zugetragen haben, Sie so sehr beeinflußt haben, daß Sie jetzt ganz fest daran glauben , Sie hätten alles so geträumt?«
»Aber nein! Sofort nach diesem Alptraum bin ich aufgewacht und fiebernd vor Aufregung hier in diesem Zimmer auf und ab gegangen. Dann habe ich mich bemüht, alle Einzelheiten niederzuschreiben, die mir noch gegenwärtig waren. Die ungewöhnliche Deutlichkeit der Bilder, die völlig logische Verknüpfung der Tatsachen und die Wahrscheinlichkeit eines solchen Attentats brachten mich sofort auf den Gedanken, daß es sich um eine Vorahnung handelte, um einen prophetischen Traum. Unnötig zu sagen, daß ich dieses Geheimnis nicht für mich behalten wollte und konnte! Ungeduldig wartete ich, bis der Morgen so weit fortgeschritten war, bis ich meiner Mutter und einer im Haus schlafenden Freundin zumuten konnte, sie zu wecken. Es war — wie gesagt —erst halb vier! Für sie habe ich sogar eine Skizze des Attentats aufgezeichnet, das dann auch genauso ablief. Am Vormittag habe ich dann den Traum zwei weiteren Zeugen erzählt und sogar einen Bericht darüber an meinen Bruder geschickt. Er besitzt ihn noch immer. Sie können sich vorstellen, mit welcher Angst ich auf die Nachricht gewartet habe und mit welchem Entsetzen, mit welcher Fassungslosigkeit ich am Abend erfuhr, daß der Alptraum in der Tat eine Prophezeiung gewesen war!«
Der Bischof merkt, wie ihn der Polizeibeamte still beobachtet. So, als ob ihm eine Frage auf der Zunge liegt, die er nicht zu stellen wagt. »Ich weiß, was Sie denken: Warum habe ich nichts unternommen. Nicht mehr unternommen, als mir Zeugen zu suchen? Warum habe ich nicht wenigstens versucht, Erzherzog Franz Ferdinand unmittelbar nach dem Traum zu warnen? Ich hätte ihm ja am selben Morgen ein Telegramm schicken können nach Sarajewo. Ja, es hätte ihn sicher erreicht, er hätte auch das Telegramm gelesen. Vielleicht — vielleicht wäre er dann nicht in der Öffentlichkeit erschienen? Vielleicht wäre sogar der Weltkrieg zu vermeiden oder wenigstens hinauszuschieben gewesen. Nicht wahr, daran denken Sie?«
»Ja, ich kann es nicht leugnen. Daran denke ich.«
»Nun. ich habe es nicht getan, weil — ich nicht eine Sekunde lang daran gedacht habe! Es klingt unglaubhaft, aber ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen. Seither verfolgt mich dieser Gedanke. Bis an mein Lebensende wird er mich quälen. Anstatt nach dem Traum alles zu tun, um die Katastrophe zu verhindern, habe ich in der Kapelle eine Messe gelesen und auf das Telegramm mit der verhängnisvollen Nachricht gewartet.«
»Hat der Hof in Wien von Ihrem Traum erfahren?«
»Ja. Ich selbst habe den Hof darüber in Kenntnis gesetzt!«
»Und hat man Ihnen nicht vorgeworfen, nichts unternommen zu haben?«
»Nein. Zehn Tage später, in Wien bei den Trauerfeierlichkeiten, habe ich den Erzherzoginnen Maria Theresia und Maria Annunciata alles dargelegt. Und keine von beiden hat mir den Vorwurf gemacht, daß ich den Todestraum nur im engsten Kreis erzählt habe.«
»Und warum nicht, Ihrer Meinung nach?«
»Nun, vielleicht weil sie annahmen, daß ich mich als katholischer Bischof nicht so entschieden von einem Traum leiten lassen konnte, lassen durfte. Nachträglich hat er sich freilich als prophetisch erwiesen.«
Darauf erwidert der Polizeibeamte nichts mehr und geht. Er zweifelt nicht daran, daß der Bischof die reine Wahrheit spricht. Schließlich gibt es zu viele Zeugen und auch unwiderlegbare Beweise. Aber an einen prophetischen Traum kann er einfach nicht glauben. Es muß eine andere, viel
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