Der Mann der nicht zu hängen war
aus seiner Tasche ein Blatt Papier heraus, das ihm sein Anwalt in der Bank gegeben hat: »Nein, nein, ich bin bescheiden. Ich möchte nur ein paar Besuche machen. Um ganz genau zu sein, es sind zehn Leute, die ich sehen möchte. Sie brauchen keinerlei Befürchtungen zu haben: Es sind allesamt sehr ehrenwerte Bürger. Sie hatten alle nur einmal mit der Justiz zu tun — damals, bei meinem Prozeß: die zehn Geschworenen — erinnern Sie sich?«
Und bis 19 Uhr besucht Mick Jennifer zusammen mit Marschall Bennett einen nach dem anderen all die Menschen, die ihm vor drei Jahren zu zehn Jahren Haft verholfen haben.
Er beschimpft sie nicht. Ganz im Gegenteil! Höflich erkundigt er sich, als wäre er ein guter alter Freund, wie es ihnen geht, ob alle gesund sind, ob die Kinder gut sind in der Schule, wie die Geschäfte gehen. Er bittet, ein wenig in der Wohnung, im Haus herumgehen zu dürfen — einfach so, um sich halt ein besseres Bild machen zu können von den Menschen, die ihn verurteilt haben. Und wenn er sich wieder verabschiedet, dann wünscht er allen noch viel Glück und Erfolg. »Genießen Sie die Freiheit — und alles Gute!«
Kein einziges böses Wort, nicht die Spur eines versteckten Vorwurfs, die Liebenswürdigkeit in Person. Der Marschall ist sprachlos. Und er ist sich noch nie so komisch in seiner Haut vorgekommen. Was soll das alles? Und die Geschworenen — sie verstehen die Welt nicht mehr.
Um 19 Uhr 04 fährt der Marschall in den Gefängnishof ein. Der Direktor wartet schon am Portal: »Nun, wie ist es gelaufen?«
»Perfekt. Mick hat sich perfekt benommen. Und, wie Sie bestimmt schon erfahren haben, alles bestens erledigt.«
»Ja, ich habe schon einiges gehört.«
Jetzt steigt auch Mick Jennifer aus dem Polizeiwagen aus. »Auf Wiedersehen, Marschall. War das nicht ein toller Tag, auch für Sie? Übrigens — fast hätte ich es vergessen! Meine Freunde, die Geschworenen, haben darauf bestanden, mir einige Erinnerungsstücke mitzugeben. Aber ich wüßte wirklich nicht, was ich hier damit anfangen könnte. Vielleicht sind Sie so nett, lieber Marschall, und geben dies alles an die Wohltätigkeitsorganisation der Polizei.«
Und vor den verblüfften Polizisten entleert Mick Jennifer seine große Ledertasche, die er bei jedem Besuch über der Schulter hängen hatte: Brieftaschen, Brillen, Armbanduhren, Wecker, Pfeifen, Photoapparate, Schlüssel, Stricknadeln, und bevor er in seine Zelle zurückgebracht wird, schüttelt er noch die Tasche, um zu zeigen, daß wirklich nichts mehr drin ist.
»Ja, Marschall. Das war’s. Aber sagen Sie, vermissen Sie eigentlich nichts seit heute morgen? Das wundert mich aber sehr!« Und aus der einzigen Tasche seiner Gefängnisjacke holt er ein Paar Handschellen heraus und überreicht sie feierlich dem bemitleidenswerten Marschall. »Danke, daß Sie nicht auf die Idee gekommen sind, sie mir anzulegen, lieber Mr. Bennett! Das wär’s wohl. Nichts für ungut, Marschall Bennett!«
Sarajewo — zwölf Stunden davor
D as bekannte und immer wieder untersuchte Attentat von Sarajewo wäre nur eine tragische Episode wie viele andere auch, wenn es nicht den Ersten Weltkrieg ausgelöst hätte.
Kurz die Umstände des Attentats: Erzherzog Franz Ferdinand von Habsburg, Thronfolger der »Donau-Monarchie«, begibt sich mit seiner Gemahlin nach Bosnien, um an den Sommermanövern des Heeres teilzunehmen. Als der offene Wagen, in dem die Hoheiten sitzen, am 28. Juni 1914 auf dem Weg zum Rathaus durch Sarajewo fährt, springt ein Mann mit einer Pistole darauf zu und schießt mehrmals. Der Erzherzog bricht zusammen. Die Herzogin will sich über ihren Gemahl werfen, ist aber ebenfalls getroffen. Als der Wagen vor dem Rathaus hält, sind nur noch zwei Leichen zu bergen. Der Mörder wird verhaftet. Es ist ein serbischer Student namens Princip.
Der Konflikt, in den Österreich-Ungarn und Serbien durch das Attentat geraten, verschärft sich derart, daß er sich Schritt für Schritt über die ganze Welt ausweitet. So weit die Geschichte, wie sie in jedem Schulbuch nachzulesen ist.
Und hier beginnt — eine andere Geschichte :
Im Jahre 1916, mitten im Krieg, kommen einem ungarischen Polizeibeamten verschiedene Gerüchte zu Ohren... Danach soll das Attentat von Sarajewo nicht etwa die Tat eines einzelnen Studenten gewesen sein, sondern das Ergebnis eines in Ungarn — sogar im Umkreis der kaiserlichen Familie — angezettelten Komplotts! Und obwohl dem Beamten das ganze Gerede höchst
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