Der Mann, der nichts vergessen konnte
einem unvergleichlichen, jedoch nicht jedermann beglückenden Geschmack – »und dieser andere Fraß. Also, Sie wollen das ganze Zeug, das ich hier notiert habe, tatsächlich in Ihren Körper schütten?«, vergewisserte er sich noch einmal.
»Natürlich nicht alles auf einmal«, stellte Tim klar. »Ich weiß, für jemanden, der sich nur von naturreinem Nandralon und anderen gesunden Anabolikacocktails ernährt, ist das schwer vorstellbar, aber eure Laborratte braucht das zuckrige Zeug, um ihren Geist auf Touren zu bringen.«
»Aber Rootbeer! Ich dachte, ihr Deutsche bekommt von dem Zeug immer das Kotzen.«
»Das ist ein Ammenmärchen.«
»Na schön. Owl hat gesagt, es soll Ihnen an nichts fehlen.«
»Fein. Wann darf ich zum Hofgang?«
Microbrain schleuderte wie Thor seinen Hammer einen vernichtenden Blick auf die »Ratte«. Er stellte sich vor die Zifferntastatur, damit der Büchernager am Schreibtisch ihn nicht beim Eintippen der Kombination beobachten konnte.
Laut neuester Anordnung der Eule durfte die Tür des Librarian’s Office »nicht länger geöffnet bleiben, wie ein Individuum zum Betreten oder Verlassen des ›Labors‹
benötigt«.
»Ach, eines noch!«, hielt Tim den Agenten zurück.
»Ja, Sir?«, erscholl es drohend von der Tür.
»Ich hätte gerne ein Notizbuch.«
»Ein Notizbuch.«
»Ja. Und einen Füllfederhalter. Bitte keinen Filzstift. Ich schreibe nur mit echter Tinte.«
»Welche Farbe?«
»Das überlasse ich Ihrer Fantasie. Ach ja, und ein Löschblatt bitte.«
»Darf ich dazu vielleicht noch ein paar Kaviarschnittchen reichen?«
»Das wäre nicht schlecht. Ist aber nicht unbedingt nötig.«
Tim lächelte honigsüß. »Danke, Microbrain.«
Der Kerkermeister tippte die Kombination ein, riss beim Summen des Schlosses die Tür auf und ließ sie Sekundenbruchteile später wieder ins Schloss krachen.
Tim sah auf die Uhr. Der Montagmorgen war schon weit fortgeschritten. Um neun hatte Jamila ihn allein gelassen, um sich mit Owl zu treffen, und jetzt, kaum zwei Stunden später, kam er vor Sehnsucht nach ihr fast um. Wohin sollte das nur führen! In jeder Schachpartie hätte er sich wohler gefühlt als in dem Spiel, das sie mit ihm trieb. Wie weit durfte er ihr trauen?
Sie verheimlichte ihm etwas, das stand fest. Aber was? Und warum? Nur aus Pflichtgefühl gegenüber ihrem Vorgesetzten?
Oder…?
Er schüttelte griesgrämig den Kopf. Das Grübeln führte zu nichts. Er versenkte sich wieder in die Arbeit.
Der vergangene Sonntag hatte ganz im Zeichen der Operation T gestanden. Und der Verarbeitung dessen, was er in der Kammer der Erkenntnis erlebt hatte. Er war in Begleitung zweier NSA-»Beschützer« nach Washington rücküberführt worden, und Jamila hatte mit ihrer Skyhawk allein nach Baltimore heimfliegen müssen. Weil die Agenten wenig gesprächig waren, blieb ihm genug Zeit zum Nachdenken.
Seine Eltern waren ermordet worden.
Das war der Extrakt aus dem, was sein Gedächtnis ihm zu sehen gestattete. Allein diese Erkenntnis wirkte ungemein befreiend auf ihn. Er war nicht schuld an ihrem Tod. Das Feuer hatten andere gelegt. Die Gesichter der Mörder konnte er noch nicht klar erkennen, aber immerhin war ein Anfang gemacht.
Die Ärzte hatten Tim erzählt, er habe in der Nacht vom 9. November 1989 einen schweren tonisch-klonischen Anfall gehabt. Die dadurch bedingte Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff könne bestimmte Erinnerungen sozusagen für immer ausradiert haben. Erst Jahre später, als die Diagnosemöglichkeiten fortgeschrittener waren, hatte man bei ihm einen massiven Defekt im Corpus callosum festgestellt, dem »Balken«, der die beiden Gehirnhälften miteinander verband. Dadurch arbeiteten diese wie eine einzige, riesenhafte Hemisphäre – das sei vermutlich auch der Grund für seine Inselbegabung, meinten die Spezialisten. Sie bezweifelten, dass seine »Schrankenstörung« durch das erlittene Schädel-Hirn-Trauma eingetreten war. Dazu hätte er eine sogenannte Scherverletzung erleiden müssen, die normalerweise kein Patient ohne schwerste psychische Behinderungen überstand.
Weil Tim selbst für die fähigsten Köpfe auf dem Gebiet der Gehirnforschung ein Rätsel war, hatte man ihm immer auch Hoffnungen gemacht, er könne Teile seiner Erinnerungen eines Tages wiederfinden. »Unser Geist kann traumatische Erlebnisse zwar verdrängen«, hatte ihm einmal ein Psychologe erklärt, »aber manchmal bringt er uns lange Vergessenes auch zurück. Wie eine Flaschenpost,
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