Der Mann, der nichts vergessen konnte
die nach Jahren wieder an denselben Strand gespült wird.«
Vielleicht war es gar nicht so abwegig, dass er ausgerechnet im Tomb, dieser mit Kuriositäten aus drei Jahrhunderten bis unters Dach vollgestopften Monstrosität, seine verlorene
»Flasche« wiedergefunden hatte.
Er schaute versonnen zur bemalten Decke empor, und sein Blick blieb wie schon so oft an einem der Spruchbänder hängen.
IN TENEBRIS LUX
Er nickte. »In Dunkelheit Licht« – das hatte er fürwahr erlebt!
Nicht nur in Bezug auf die so lange im lichtlosen Vergessen versunkenen Erinnerungen, sondern auch im Hinblick auf den letzten Albtraum und die »Visionen« des Tempels. 322 Eulogia est. In der Logenzahl lag tatsächlich Wahrheit. Er schloss die Augen, um das letzte Puzzle zu öffnen.
In der vergangenen Nacht hatte er bereits den richtigen Lösungsweg gefunden, ihn aber nicht konsequent bis zu Ende ausgeführt. Das tat er jetzt in weniger als einer halben Stunde.
Natürlich ohne Notizbuch. Nur im Geist setzte er den Text zusammen.
Wie vermutet, hatte Beale die Chiffre des ersten Blattes über zwei Ebenen hinweg erstellt. Im ersten Durchgang kam eine sogenannte polyalphabetische Substitution zum Einsatz. Dabei handelte es sich um eine Weiterentwicklung des schon von Julius Cäsar benutzten Verfahrens, der einfach jeden Buchstaben des Klartextes im Alphabet um eine bestimmte Anzahl von Stellen verschob, um hiernach an der Versatzposition sein verschlüsseltes Gegenstück zu entnehmen. Nach dem ersten Durchgang hatte sich Beale wieder derselben Buchcodierung bedient, mit der auch das zweite Blatt chiffriert worden war. Als Schlüsseltext wählte er wiederum die Unabhängigkeitserklärung. Mit einer kleinen Besonderheit, die Tim schmunzeln ließ und zu einem Ausruf der Bewunderung animierte.
»Du raffinierter Hund!«
Er stand auf, trat mit einer zufriedenen Miene ans Fenster und blickte auf den Innenhof hinaus. Bisher hatte er sich diese Muße nie gegönnt. Nun aber konnte er zufrieden dem Nichtstun frönen. Es war ein ungewohnter Genuss. Die Droge der Unrast hatte für ihn die Bedeutung verloren, denn er brauchte weder seiner Erinnerung mit den Brechstangen geistiger Gewaltakte auf den Leib zu rücken, noch seine Schuldgefühle in mentalen Exzessen ertränken.
Er konnte einfach er selbst sein.
Bedauerlicherweise tropfte aus dem wiedergefundenen Gefäß seiner Erinnerungen kein süßer Met, sondern nur bitterer Wermut. Seine Eltern waren auf grausame Weise ermordet worden, und er wusste weder den Grund, noch kannte er die Namen der Mörder.
Kurz vor zwölf hörte er das vertraute Summen an der Tür.
Sie öffnete sich, und Jamila trat ein.
»Hallo, was macht die Arbeit?«, fragte sie. Es sollte wohl fröhlich klingen, aber Tim bemerkte, dass sie irgendetwas bedrückte.
Er zögerte. Wenn er ihr jetzt von der Entdeckung berichtete, dann gab er gleichsam seine Dame aus der Hand. Andererseits, wem, wenn nicht ihr, konnte er vertrauen? Er beschloss, alles auf eine Karte zu setzen.
Schwungvoll stieß er sich vom Fensterrahmen ab, lief auf sie zu und umarmte sie. Den Trick hatte sie ihm gezeigt. Laut –
für die Mikrofone – sagte er: »Ich habe dich so vermisst, Jamila.« Dazu brauchte er nicht einmal zu lügen. Leise hauchte er ihr ins Ohr: »Die Chiffre ist geknackt. Jetzt hol mich hier raus. Oder verrate mir wenigstens die Kombination zum Schloss.«
Er spürte, wie sie sich in seinen Armen versteifte. Ihre Antwort kam laut, aber – diese Frau war wirklich raffiniert! – in chiffrierter Form. Geradezu beglückt antwortete sie:
»Warum so stürmisch heute, Tim? Willst du mich etwa wieder zum Essen ausführen? Daraus wird leider nichts. Owl hat gesagt, er will den Schutzarrest so lange aufrechterhalten, bis wir die von dir gefundene Lösung überprüft haben. Würde ich dich vorher gehen lassen, brächte er mich um.«
Beide lachten herzlich.
Sie rückte ein wenig von ihm ab, aber er hielt sie weiter fest.
Obwohl die Situation für romantische Gefühle nicht gerade ideal war, spürte er das Verlangen, sie zu küssen. Es kostete ihn alle Beherrschung, sich nicht auf ihre Reize, sondern weiter auf das Spiel mit den Doppeldeutigkeiten zu konzentrieren. Hinauslassen wollte oder konnte sie ihn also nicht, übersetzte er ihre letzte Botschaft. Vermutlich wegen Microbrain und Knight. Damit hatte er gerechnet und bereits an der Ausarbeitung von Plan B zu arbeiten begonnen. »So hartherzig ist dein Boss bestimmt nicht. Vermutlich
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