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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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wirkte auf Tim die dunkle Brille. Im ersten Moment dachte er, die »Cyberwar« Task Force der NSA würde von einem Blinden geleitet. Die Augen der Eule waren hinter den getönten Gläsern nur als verschwommene Reflexe wahrnehmbar. Das würde erklären, warum Jamila so geschmunzelt hatte, als er das pathetische »Unter den Augen meines Bosses« hinausposaunte.
    Im Gefolge des Operationschefs betraten zwei weitere Personen den Raum: Die weltbekannte Historikerin Dr. Jamila »JJ« Jason – sie trug ein Tablett mit Kaffeegeschirr, Gläsern und kalten Getränken – und ein etwa fünf Jahre jüngerer Mann, der Tim an den Hollywoodschauspieler Colin Farrell erinnerte und ihm auf Anhieb unsympathisch war. In seiner ganzen Körpersprache drückte der Mann aus, dass er sich als den einzigen Vertreter einer höheren Lebensform auf Erden betrachtete. Er hatte dunkelbraune, halblange Haare, eine schmierige Gesichtshaut und einen stechenden Blick. Sein Anzug sah aus wie eine billige Fälschung des Eulenzwirns.
    Darunter trug er nicht etwa wie Kogan ein weißes Hemd mit Krawatte, sondern ein schwarzes T-Shirt mit gelbem Aufdruck: Ein Globus, der aus einer Mülltonne ragte mit der Unterzeile WWW World Wants Waste – »Welt will Abfall«. Ob sich darin eine politische Haltung ausdrückte oder nur ein infantiler Auflehnungsreflex, vermochte Tim schwer einzuschätzen.
    »Darf ich dir Dr. Emil Kogan vorstellen«, sagte Jamila und deutete auf ihren Chef.
    Tim sah sie erstaunt an. Sie hatte Owls richtigen Namen benutzt.
    Kogan streckte ihm die Hand hin. »Freut mich, Sie endlich kennenzulernen, Dr. Labin. Ich habe JJ gesagt, wir könnten aus Anlass Ihrer historischen Entdeckung die Masken fallen lassen.«
    Irgendwie hatte Tim das Gefühl, der Spruch sei auf ihn gemünzt und nicht auf die Decknamen. Er trat einen Schritt zurück. »Betrachten Sie es bitte nicht als Unhöflichkeit, Dr. Kogan, aber können wir uns diese Formalien sparen? Mit Händeschütteln habe ich so meine Probleme.«
    »Wie Sie wollen. JJ hat mir schon von Ihren… Eigenarten erzählt.« Kogan wandte sich seinem Begleiter zu. »Das hier ist Justin Flock, in meinem Team Spezialist für Kriegführung im Internet und ein erstklassiger Kryptologe. Er wird mir als Fachberater zur Seite stehen. Doch setzen wir uns erst einmal.«
    Jamila verteilte Untersetzer, Tassen und Gläser auf dem Tisch, während die Herren der Schöpfung bereits an dem ovalen Tisch Platz nahmen. Irgendwie fand es Tim seltsam, diese taffe junge Frau in der Rolle der Direktionsassistentin zu sehen. »Warum begutachtet nicht Squirrel die Ergebnisse meiner Arbeit?«, erkundigte er sich. Er bemerkte ein kurzes Aufblicken Jamilas, so, als bewege sie dieselbe Frage.
    Kogan hatte die Unterarme lässig auf den Tisch gelegt, breitete sie nun aber aus und erklärte: »Ich will es mal so ausdrücken: Squirrel ist ein begabter Starkstromelektriker, Mr. Flock dagegen ein Elektroniker, der in seiner Garage zu Hause Mikrochips bastelt. Außerdem sind wir nun in einer Phase des Projekts angelangt, in der wir uns nicht die geringste Indiskretion erlauben können.«
    Gerne hätte Tim weiter nachgehakt, etwa die Frage gestellt, ob die Eule denn auch Kuckuckseier in ihrem Nest ausbrüte, doch Kogans natürliche Autorität erstickte seine aufmüpfigen Anwandlungen, einstweilen wenigstens. Irgendwie gefiel ihm dieser Mr. Flock von Minute zu Minute weniger, vielleicht weil auch Jamila dessen Anwesenheit irritierend fand. Oder benahm sich das Wunderkind nur wie ein eifersüchtiger Liebhaber, weil ein potenzieller Rivale auf dem Balzplatz erschienen war? Tim appellierte an seine Professionalität.
    »Von mir aus können wir anfangen.«
    Jamila lief um den Tisch herum, legte ihm ein Notizbuch sowie einen erkennbar neuen Füllfederhalter unter die Nase und sagte: »Mit Löschblatt.«
    Tim nickte ihr dankend zu und bemerkte dann an Kogans Adresse gewandt: »Bitte geben Sie mir einen Moment. Es dauert nicht lange.«
    Er öffnete bedächtig das in schwarzen Karton gebundene Notizbuch, nahm das hellblaue Löschblatt heraus und begann den ersten Teil aus Beales Vermächtnis in zwei Varianten aufzuschreiben, zunächst genau so, wie Beale- dieser raffinierte Hund! – ihn chiffriert hatte: ohne Punkt und Komma, ohne Leerzeichen, nur in Großbuchstaben und in Deutsch. Nach allem, was Tim inzwischen über Beales Biografie wusste, war das für ihn nicht einmal die größte Überraschung gewesen. Eher hatten ihn schon die sich daraus

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