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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Alles klar?«
    Er schluckte schwer. »Ja.«
    Sie drückte seine Hand. »Du schaffst das, Tim. Wir müssen nur schnell sein. Dies ist vielleicht unsere einzige Chance, hier heil rauszukommen. Denk immer an den Spruch:  Tempus   fugit .«
    Im nächsten Moment war sie verschwunden.
    »Zeit fliegt«, keuchte Tim. Er musste sich am Türgriff festhalten, weil Jamilas letzte Worte ihn schwindeln machten, als habe sie ihn mit einem Elektroschocker geküsst. Einen tiefen Atemzug später war das seltsame Aufbäumen seines Unterbewusstseins schon wieder vorüber, und er lauschte.
    Vom Klappen der zweiten Tür war nichts zu hören.
    Er machte sich klar, dass Jamila sich jetzt viel vorsichtiger bewegte als vorhin. Hatte er ihr Zeichen womöglich verpasst?
    Rasch öffnete er die Tür und schlüpfte in die Kammer der Erkenntnis.
    Kaum hatte er den engen Raum betreten, rührte sich am Grund seiner Seele auch schon wieder das Ungeheuer. Sein Puls beschleunigte sich, ebenso der Atem; die Handflächen wurden feucht. Er presste das Auge an einen breiten Riss auf Bauchnabelhöhe und spitzte zugleich die Ohren. Oben war es finster und still. Zu ruhig, dachte er. Furcht stieg in ihm auf.
    Was, wenn diese Kerle Jamila aufgelauert und sie überwältigt hatten? Vielleicht brauchte sie seine Hilfe…
    Nein!, rief er sich zur Räson. Sie hatte ausdrücklich gesagt, er solle auf ihr Zeichen warten.
    Die Zeit rann dahin.
    Tempus fugit.
    Tim fuhr erschrocken zusammen, als der lateinische Spruch abermals wie ein greller Blitz durch seinen Geist zuckte. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Zu allem Übel steckte er auch noch in dieser engen Kammer fest. Immer höher kroch die Angst, so wie ein kaltes, schleimiges Geschöpf, das an den Brunnenmauern seiner Seele in die Welt des Lichts emporstrebte, um dort Unheil zu stiften. Warum kam nicht endlich das befreiende Lichtzeichen?
    Tempus fugit. »Zeit fliegt« – und die ihre ist gerade verflogen…
    Abermals ließ ihn das Aufblitzen einer Erinnerung zusammenfahren. Er schnappte nach Luft. Wo kamen diese Worte her? Wann hatte er sie zum ersten Mal gehört?

    Die Enge wurde immer unerträglicher, so, als rückten die Wände der Ein-Mann-Zelle unaufhaltsam aufeinander zu, um ihn zu zerquetschen – noch ein paar Sekunden, und er würde die Tür nicht mehr aufbekommen. Er glaubte eine unerklärliche Hitze zu spüren. Schweiß trat auf seine Stirn.
    Hatte da eben auf der anderen Seite der Tür eine Flamme aufgelodert? Waren da die Silhouetten von Menschen gewesen, zwei auf Stühlen und drei andere? Er vermochte nicht mehr zwischen Wahnvorstellung, Erinnerungen und Realität zu unterscheiden. Alles vermischte sich. Sein Verstand schien sich aufzulösen…
    Plötzlich strahlte ihm das Licht direkt in die Augen, stach wie ein Laserskalpell durch seine Pupille, jagte die Photonen durch den Sehnerv, mitten ins Gehirn…
    Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst, dann lass ihn sich selbst besiegen…
    Er rang erneut nach Luft, weil die Erinnerungen ihn förmlich zu ersticken drohten. Ein Damm war gerade gebrochen, und was dieser so lange zurückgehalten hatte, brach jäh über ihn herein. Unwillkürlich riss er in der Gier nach mehr Sauerstoff an der Tür. Sie gehorchte willig, und der Strahl aus Jamilas Taschenlampe richtete sich nach unten auf die Stufen.
    Ein Flashback!, machte sich Tim keuchend klar, ein zweites Erleben von Erinnertem und Verdrängtem. Die Ärzte hatten ihm davon erzählt, ihn vorgewarnt, ihm Hoffnung gemacht.
    Am Ende ist immer alles anders, als man denkt. Die Situation gestattete ihm nicht, sich mit der angemessenen Bedächtigkeit auf die neue Seelenlage einzustellen. Tempus fugit. Die Zeit flieht.
    Er stolperte die Treppe hinauf zu Jamila, kaum auf das Knarzen der Stufen achtend, weil er in seiner Benommenheit nicht klar denken konnte. Doch wieder einmal hatten die beiden Glück im Unglück, denn eine aufgeregte Stimme aus dem Obergeschoss übertönte alle verräterischen Geräusche.
    »Ich hab den Schlüssel gefunden. Das glaubst du nicht. Weißt du, wo er war? Er lag auf dem Fußboden!«
    Und die andere erwiderte hörbar erzürnt: »So eine Schweinerei. Lass uns sofort im IT nachsehen, ob etwas fehlt.«
    Jamila deutete auf die Tür zum Diningroom und schlich voran. Während oben die Bonesmen den Äußeren Tempel betraten, huschten die Eindringlinge unten in die Speisehalle.
    Als Jamila die Tür zur Halle schloss, quietschten die Angeln.
    »Ob die das gehört haben?«,

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