Der Mann, der nichts vergessen konnte
wird er dir nach Abschluss des Projekts einen Orden anheften und dich gleich in einen neuen Einsatz schicken. Ich könnte es mir nie verzeihen, allein hier herauszuspazieren und nicht zu wissen, wo ich dich finden kann.«
»Ich werde dir eine Ansichtskarte schicken.«
»Das wäre nett. Bleibt’s eigentlich bei meiner Belohnung?
Wenn ja, dann kannst du mir einen Teil meiner Millionen gleich in Naturalien auszahlen. Stell mir einfach einen roten Ferrari als Fluchtfahrzeug vor die Tür, dann bin ich wie Michael Schumacher hic et nunc weg.«
»Der ist aber kein Champion mehr.«
»Bin ich denn noch einer?«
»Für mich wirst du immer der Champion bleiben, Tim. Was allerdings das Fluchtfahrzeug betrifft, das wird schwierig. Rund um das Jefferson Building ist nämlich Parkverbot. Aber ich kann dir ein Metrorail-Ticket schenken«, scherzte sie und lachte ganz bezaubernd.
Darin ist sie wirklich gut, dachte Tim. Er wusste selbst nicht genau, ob der Vorschlag mit der U-Bahn als ernste Alternative zu einem Fluchtfahrzeug gemeint war. »Abgemacht.
Hauptsache, ich kann allem, was mich an die NSA erinnert, für immer den Rücken kehren.«
Jamila befreite sich aus seinem Griff und sagte tadelnd: »Red nicht so abfällig über meinen Brötchengeber. Habe ich dich etwa enttäuscht?«
Ihm war klar, dass sie damit etwas anderes ausdrücken wollte: Mehr kann ich dir nicht geben – ist der Kompromiss für dich akzeptabel? Er dachte kurz über ihr Angebot nach. Sie hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm weiterhelfen würde. Dazu musste er allerdings allein aus der Bibliothek herauskommen. »Ja«, sagte er. »Aber nur, wenn ich die Metro-Fahrkarte bekomme.«
»Versprochen.« Sie lächelte ihn an. »Jetzt wüsste ich aber gerne, warum du faulenzt, anstatt deine Nase in Bücher zu stecken.«
»Ich habe von dem Ferrari geträumt.«
Sie riss sehr überzeugend die Augen auf. »Soll das heißen… du hast die Chiffre entschlüsselt?«
Er nickte grienend. »Ja.«
»Zeig her!«
Tim tippte sich gegen den Kopf. »Ist alles hier oben.«
»Dann schreibt auf.«
»Schon vergessen? Ich habe kein Notizbuch.«
»Ich leih dir meins.«
»Hast du auch Löschpapier?«
Sie sah ihn verständnislos an. »Nein! Ich benutze einen Kuli.«
»Ich ziehe Tinte vor«, näselte er.
Sie musterte ihn argwöhnisch. »Wirst du jetzt exzentrisch, oder was?«
»Das ist der einzige Luxus, den ich mir hier leisten darf. Aber bemühe dich nicht, wegen des Notizbuchs, meine ich.
Microbrain kümmert sich schon darum. Bis Owl hier ist, dürfte er alles besorgt haben.«
»Owl?«, japste sie.
Tim grinste. Er hätte auch Emil Kogan sagen können, wollte Jamila aber nicht kompromittieren. »Gehöre ich nun zum Team oder nicht? Ich präsentiere eine der größten Entdeckungen in der Geschichte der Kryptologie doch nicht Leuten, die Microbrain heißen. Ihr bekommt den Klartext von mir. Von meiner Hand, in mein Notizbuch geschrieben, mit meinem Füllfederhalter und meiner Tinte. Unter den Augen meines Bosses.«
PHASE VI
SCHACH
Gegenwart
»Auf dem Schachbrett der Meister gilt Lüge
und Heuchelei nicht lange. Sie werden vom
Wetterstrahl der schöpferischen Kombination
getroffen, irgendwann einmal, und können die
Tatsache nicht wegdeuteln, wenigstens nicht für
lange, und die Sonne der Gerechtigkeit leuchtet hell
in den Kämpfen der Schachmeister.«
Emanuel Lasker
Das Summen des elektronisch gesicherten Schlosses wirkte wie ein Säbel, der Tims angespannte Nerven mit einem Hieb zu durchtrennen schien. Owl hatte seiner Forderung ohne Wenn und Aber zugestimmt. Das Treffen sollte um fünf Uhr nachmittags im Labor stattfinden, und jetzt war es 17.04 Uhr. Einen hübschen großen Besprechungstisch besaß der Librarian der Nationalbibliothek ja. Wie die Eule wohl aussehen wird?, fragte sich Tim. Jamila hatte ihren Boss als rüstigen Achtundsechziger beschrieben.
Eine Tür ging auf, und in den Raum trat eine beeindruckende Gestalt, die tatsächlich alles andere als ein greiser Mann war. Emil W. Kogan. So sieht er also aus, dachte Tim: volles weißes Haar, stattlich, den dunkelblauen, vermutlich maßgeschneiderten Anzug ohne unvorteilhafte Rundungen ausfüllend, im ganzen Ausdruck dynamisch und offenbar beweglicher als manch anderer mit fünfzig. Das kantige Gesicht sah aus, als sei es aus dem braunen Sandstein des Tempels der Schädel und Knochen gehauen. Etwas irritierend
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