Der Mann, der nichts vergessen konnte
geknackt und mich nachher im Web schlau gemacht. Von wegen: ›Haben Sie je Ihre Grenzen ausgelotet? Ich kann Sie dorthin führen.‹ Für kurze Zeit bin ich tatsächlich auf diesen Schmu reingefallen.
Wenn Sie nichts Besseres zu bieten haben, vergeuden Sie nur meine Zeit.« Tims Daumen schwebte wie ein
Damoklesschwert über der Auflegentaste. In seiner Stimme schwang etwas Ablehnendes, das Afsahi zu einer schnellen Antwort anstachelte.
»Warten Sie! Es war nur ein kleiner Test. Wenn Sie im Internet recherchiert haben, wissen Sie ja auch, dass die anderen beiden Blätter der Beale-Chiffre bisher unentschlüsselt geblieben sind. Daran können Sie beweisen, was wirklich in Ihnen steckt.«
»Wieso ich? Im Web werden eine Reihe von Lösungen angepriesen. Haben Sie die schon unter die Lupe genommen?«
»Das versteht sich wohl von selbst. Diese sogenannten
›Lösungen‹ dienen nur einem Zweck: die Buchverkäufe der angeblichen Entdecker anzukurbeln. Ich brauche keine Scharlatane, sondern ein Genie wie Sie.«
»Sparen Sie sich die Schmeicheleien für Ihren Klub auf, Professor. Ich kann auch keine Wunder vollbringen. Meines Wissens haben sich ein Zehntel der besten kryptoanalytischen Köpfe der USA und unzählige Schatzjäger weltweit die Zähne an der Chiffre ausgebissen.«
»Eben. Weil diese Experten zu methodisch vorgegangen sind.
Jedenfalls ist das meine Überzeugung. Vom Timputer indes liest man, er besitze ein an Magie grenzendes Assoziationsvermögen; er könne Muster erkennen, wo andere nur Chaos sehen.«
»Sie sollten nicht alles glauben, was die Zeitungen schreiben.«
»Warum haben Sie solche Angst zu versagen, Mr Labin?«
Afsahis direkte Frage krachte wie ein Rammbock auf Tims Bollwerk der Ablehnung. »Ich fürchte mich vor keiner Herausforderung«, knirschte er.
»Umso besser. Dann kommen Sie zu mir nach Cambridge – natürlich auf Kosten der Fakultät.«
»Wieso das denn? Zum Denken muss ich nicht nach England reisen.«
»Das Projekt unterliegt strengen Sicherheitsvorkehrungen. In dem, was wir aufdecken, könnte eine große Brisanz stecken.
Da muss alles hieb- und stichfest sein, bevor wir uns dem Peer Review aussetzen.« So nannten Wissenschaftler die kritische Diskussion ihrer Forschungsergebnisse durch Fachkollegen.
»Was für ein Projekt ist das überhaupt? Ihrem Briefkopf habe ich entnommen, dass Sie Orientalist sind. Wieso interessieren Sie sich so intensiv für ein Dokument der amerikanischen Geschichte?«
»Mein Spezialgebiet ist tatsächlich das alte Persien. Im aktuellen Fall wende ich mich jedoch als Mitglied einer interdisziplinären Projektgruppe an Sie. Wir forschen über das Thema ›Aspekte der geheimen Nachrichtenübermittlung als Mittel der Politik von der Antike bis zur Gegenwart.‹«
»Umso weniger verstehe ich Ihr konspiratives Gehabe. ›Ich zähle auf Ihre Verschwiegenheit. Jede Indiskretion könnte für uns beide gefährlich sein.‹ Was sollte das? Wenn ich auch kein Historiker oder Orientalist bin wie Sie, Professor, ist mir die akademische Welt trotzdem nicht ganz fremd. Ich habe sie bisher als offenes Forum für den Austausch von Ideen verstanden, nicht als Klub von Geheimniskrämern.«
Afsahi lachte leise. »Mir ist durchaus bewusst, dass Sie in Mathematik, Physik, Jura und Wirtschaftswissenschaften promoviert haben. Vermutlich wären es noch etliche Doktortitel mehr, wenn Sie die Jagd danach nicht schon mit achtzehn gelangweilt hätte. Die Abgeschiedenheit eines Fernstudiums ist aber mit dem harten Wettbewerb zwischen den Lehranstalten nicht vergleichbar, Dr. Labin. Sie haben meiner Kenntnis nach so gut wie nie einen Fuß in eine Universität gesetzt. Wenn dem so wäre, wüssten Sie nämlich, dass Geheimhaltung in der Forschung keineswegs ungewöhnlich ist.«
»Fürchten Sie, die Chinesen könnten die Früchte Ihrer harten Arbeit stehlen?«, spottete Tim.
Die Antwort des Professors klang alles andere als heiter.
»Sollte jemand unsere Erkenntnisse missbrauchen, wären die Folgen möglicherweise katastrophal.«
»Sie glauben doch nicht etwa dieser Yale-Historikerin, die am liebsten die Geschichte der amerikanischen Revolution umschreiben will?«
»Die Schlussfolgerungen von Dr. Jason sind weniger abwegig, als Sie möglicherweise annehmen. Sollte die Kollegin mit ihrer These recht behalten, könnte uns die Beale-Chiffre zu Dokumenten führen, die das politische Gebilde USA als großen Schwindel entlarven. Wir müssten unsere Geschichtsbücher in die
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