Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
und Glückwunsch zum Gewinn der Schachweltmeisterschaft.«
    Anstatt sich auf einen Händedruck einzulassen, hängte Tim den Koffergriff in die dargebotene Pranke ein. »Bin ich denn noch Champion?«
    Butchers Gesicht nahm einen dümmlichen Ausdruck an.
    »Äh… vorgestern waren Sie es doch noch, oder?«
    »Das stimmt. Aber Sie wissen ja: Die Zeit ist schnelllebig geworden, und man kann nicht alle Entwicklungen im Auge behalten. Wäre es Ihnen möglich, mich zu Prof. Afsahi zu bringen?«
    »Deshalb bin ich hier. Der Dekan erwartet Sie bereits. Bitte folgen Sie mir, Dr. Labin.«
    Der Student führte den Besucher in das mit Topfpflanzen begrünte Reich eines stattlichen Dragoners von Sekretärin im reiferen Alter. Die Vorzimmerdame verscheuchte den Frischling, verlangte vom Gast die Herausgabe des Mantels, verdonnerte ihn zum Warten und suchte hiernach ein benachbartes Büro auf, um dem Fakultätsvorsteher Meldung zu erstatten. Durch die offene Tür hallte ein erfreutes: »Ach, wie schön!« Kurz darauf erschien im Schatten des Dragoners der Dekan.
    Professor Zircon Afsahi war ein gut erhaltener Mittfünfziger mit unverkennbar orientalischem Aussehen: dunkler Teint, tiefbraune Augen, schwarze, an den Schläfen jedoch fast weiße Haare, ein dichter, silbern durchwirkter Schnurrbart und das schalkhafte Lachen eines Basarhändlers. Wangen und Stirn waren eine Kraterlandschaft aus Pockennarben. Aus den Löchern der fleischigen Nase ragten Borsten, so als steckten Bürsten darin. Seine Kleidung war typisch englisch: kariertes Sakko im Landhausstil, Lederweste – alles in gedeckten Erdtönen –, beigefarbenes Hemd, schräg gestreifte Krawatte in Blau, Gelb und Rot – den Farben des Trinity Colleges –, braune Hose und dazu passendes, vermutlich maßgefertigtes Schuhwerk.
    Der schon am Telefon gewonnene Eindruck von dem Orientalisten setzte sich in der persönlichen Begegnung fort.
    Afsahi hatte – anders als die Pressemeute im Berliner Hotel Adlon – seine Hausaufgaben gemacht. Er nahm auf Tims Schrullen Rücksicht und reichte ihm nicht die Hand.
    Stattdessen hielt er Abstand und brachte seine Freude verbal zum Ausdruck.
    »Herzlich willkommen in Cambridge, Dr. Labin. Ich bin überaus entzückt, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Wie fühlt man sich so als Schachweltmeister?«
    »Ich konnte bisher keine Unterschiede zu vorher feststellen.
    Leider. Trotzdem danke der Nachfrage und auch für die freundliche Begrüßung.«
    Afsahi zwinkerte Tim zu. »Unsere… Beziehung hat ja eher holperig begonnen. Da muss ich mich wohl mehr anstrengen als gewöhnlich. Bitte kommen Sie doch in mein Büro.
    Möchten Sie einen Tee oder Kaffee?«
    »Tee wäre gut.«
    Der Dekan wandte sich seiner Sekretärin zu. »Betty, wären Sie bitte so lieb? Ich nehme auch einen.«
    Die Vorzimmerdame stieß ein Schnauben aus, das Tim in anderem Kontext eher als Ablehnung aufgefasst hätte. Sie schnappte sich vom Fensterbrett einen Wasserkocher und verließ den Raum.

    Während der Professor Tim in ein viktorianisch eingerichtetes Büro lotste, erklärte er: »Betty verkörpert nicht gerade das typische Frauenbild meiner Heimat, aber sie ist ausgesprochen verlässlich und eine herzensgute Seele.«
    Tim enthielt sich jeden Kommentars. »Zircon Afsahi – ist der Name iranisch?«
    Der Professor führte den Gast zu einem rechteckigen Besprechungstisch und antwortete, während er ihm einen Stuhl anbot: »Als Präsident der hiesigen Persischen Gesellschaft bevorzuge ich den traditionelleren Terminus ›persisch‹. Meine Vorfahren stammten aus Teheran, aber ich bin im pakistanischen Karachi geboren und schon als Kind nach England gekommen. Ein Freund sagte einmal, ich sei unter meiner asiatischen Haut britischer als die meisten Untertanen Ihrer Majestät der Königin, die im Herzland des Empire das Licht der Welt erblickten.«
    »Der Staat, in dem ich geboren wurde, existiert nicht mehr.
    Patriotismus hat für mich deshalb ungefähr den gleichen Stellenwert wie Ringelpiez mit Anfassen.« Tims krankhafter Mangel an Einfühlungsvermögen führte nicht selten zu einer schockierenden, oft sogar als taktlos empfundenen Offenheit.
    Doch Afsahi lächelte nur.
    »Ich habe schon gehört, dass Sie kein Blatt vor den Mund nehmen. Wenigstens braucht man bei Ihnen keine Heuchelei zu befürchten.«
    Tim zuckte die Achseln. »Die Ärzte sagen, mein Verhalten trage autistische Züge – ich kann mich schwer in fremde Personen hineinversetzen. Aber zum Glück sei ich

Weitere Kostenlose Bücher