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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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brauchte man es also nicht erst bei einem Bibliothekar anzufordern, sondern konnte es selbst aus dem umfangreichen Freihandbestand heraussuchen.
    Für Tim war das über fünfzig Jahre alte Haus ein Paradies.
    Umgehend suchte er sich zwischen den Regalen einen versteckten Winkel. Hier, in einer Schlucht aus Büchern, würde sich der Kontakt zu anderen menschlichen Individuen auf ein Minimum beschränken.

    Für den Rest des Tages trieb er im Strom der Erkenntnisse großer Mathematiker, Informatiker und Kryptologen.
    Und anschließend war er umfassend mit den theoretischen Grundlagen der Ver- und Entschlüsselung von Informationen vertraut.
    Müde und an Wissen satt getrunken, kehrte er am Abend ins Adlon zurück. Durch einen Nebeneingang schlich er in seine Suite, legte sich aufs Sofa im Wohnzimmer und schloss die Augen.
    Hinter seinen Lidern tobte ein Gewitter. Sein Geist würde noch lange nicht ruhen. Ihm war im Laufe des Tages schnell klar geworden, dass es sich bei dem Zahlenrätsel Professor Afsahis nicht nur um einen simplen Substitutionscode handelte, bei dem bestimmte Buchstaben des Alphabets durch Stellvertreter – in diesem Fall Zahlen – ersetzt wurden. Er tippte vielmehr auf eine bestimmte Spielart der Buchverschlüsselung: In einem gedruckten Text werden die Wörter zunächst durchnummeriert, wobei nur deren Anfangsbuchstaben für die anschließende Verschlüsselung von Bedeutung sind; die mit diesen Schriftzeichen korrespondierenden Zahlen ersetzen die zu chiffrierenden Buchstaben des Klartextes, wobei ein und derselbe Buchstabe durch verschiedene Nummern repräsentiert werden konnte.
    Das machte die Entzifferung für Uneingeweihte praktisch unmöglich. Nur wer den Schlüssel – das richtige Buch –
    kannte, vermochte die Botschaft zu entziffern.
    Und darin lag die Krux für Tim. Es gab Abermillionen von infrage kommenden Büchern und Dokumenten, sein Erinnerungsspeicher aber umfasste nicht einmal zwanzigtausend. Zwar konnte seine Wetware – so nannten die Hirnforscher das Zusammenspiel aus Gedächtnis und Gedanken mit dem Zentralen Nervensystem – aus einem Meer scheinbar unzusammenhängender Informationen Muster heraussieben, aber…
    Tim fuhr jäh von der Couch hoch. Ihm war gerade etwas klar geworden: Selbst der verschrobenste Cambridge-Professor hätte kaum eine solch herkulische Leistung von ihm erwartet.
    Die Lösung musste, wenigstens theoretisch, im Rahmen des Möglichen liegen. Vielleicht hatte Afsahi ihm sogar eine Hilfestellung gegeben, als er ausdrücklich von einem »alten Rätsel« sprach.
    Plötzlich machte es klick! in Tims Kopf, beinahe so, als würde dort ein kompliziertes Kombinationsschloss einrasten.
    Ohne bewusstes Zutun brachte sein Geist die Erinnerung an den zuvor gelesenen Zeitungsartikel über die Yale-Historikerin mit dem Brief und dem Geheimtext in Deckung.
    »Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung!« Seine Stimme klang emotionslos, fast wie bei einem Roboter, dessen Sprachmodul das Ergebnis einer schwierigen Rechenoperation ausspuckte. Ob nun die Magna Charta, die Bill of Rights, Luthers fünfundneunzig Thesen oder eben die Declaration of Independence,  die am 4. Juli 1776 vom zweiten Kontinentalkongress der britischen Kolonien in Amerika angenommene Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten – Tim hatte die wichtigsten Urkunden der Menschheitsgeschichte ausnahmslos memoriert. Deshalb brauchte er nicht mehr als seinen Geist, um Afsahis Zahlenrätsel zu lösen. Und bis zur nächsten Gedankenverbindung war es nur ein neuronaler Funkenschlag:
    »Der Schelm hat mir die Beale-Chiffre untergejubelt.«
    Die gemurmelte Vermutung wurde schnell Gewissheit, als Tim im Geiste flugs jene Schritte abspulte, für die ein Verschlüsselungsspezialist mit Papier und Bleistift womöglich eine Stunde oder mehr benötigt hätte: Er ordnete die Zahlen des chiffrierten Blattes den jeweiligen Anfangsbuchstaben der Unabhängigkeitserklärung zu, und in seinem Bewusstsein erschien, so als tippe jemand mit zwei Fingern auf einer Schreibmaschine, ein englischer Text: »I have deposited in the county of Bedford…«
    Die Botschaft beschrieb ausführlich, was im Artikel der Tribune nur angedeutet worden war. Ihr Verfasser hatte, so der Klartext, im Verwaltungsbezirk von Bedford, etwa vier Meilen von der gleichnamigen Stadt entfernt, in einem Minenschacht oder einem Höhlengewölbe sechs Fuß unter der Erdoberfläche einige Gegenstände in drei eisernen Gefäßen vergraben. Diese

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