Der Mann, der nichts vergessen konnte
die Fachliteratur so schön ausdrückte. Möglicherweise wollte sich diese orientalische Schönheit aus Yale nur wichtig machen, um ihrer Karriere einen Kick zu geben.
Versonnen betrachtete Tim die Fotografie der Historikerin auf dem Computermonitor. Er hatte eine Schwäche für intelligente Frauen, die wie Models aussehen. Nicht, dass er je mit einem hübschen Mädchen intim gewesen wäre. Zur Durchdringung des unsichtbaren Bannkreises, mit dem er sich umgeben hatte, bedurfte es eines engen Verhältnisses, und er, der Sonderling, hatte bisher kein weibliches Wesen lange genug in seiner Nähe geduldet, um eine solche Vertrautheit entstehen zu lassen. Sein Lieblingssong war 50 Ways to Leave Your Lover von Paul Simon. Zum einen, weil die präzise Zahlenangabe der verschiedenen Wege zum Verlassen einer Geliebten seinen Ordnungssinn ansprach, und andererseits, weil er, abgesehen von flüchtigen Begegnungen, exakt neunundvierzig Mädchen kennengelernt hatte. Davon waren siebzehn an seinem emotionalen Schutzschirm abgeprallt, und die übrigen zweiunddreißig hatten ihm einen Korb gegeben.
Jede einzelne Abfuhr schmerzte noch immer. Tim war der Mann, der nichts vergessen konnte.
Er schüttelte den Kopf. Diese ganze Beale-Geschichte war von vorne bis hinten absurd. Vermutlich hatten jene Kritiker recht, die dahinter einen ausgemachten Scherz vermuteten, eine Beschäftigungstherapie für Schatzjäger. Warum allerdings dieser Afsahi ihn damit gefoppt hatte, war Tim schleierhaft.
Am liebsten hätte er die lächerliche Angelegenheit vergessen.
Leider war das unmöglich.
Verdrossen machte er sich auf den Rückweg in sein Refugium. Er würde den Zimmerservice anrufen und sein Abendessen allein genießen. Am nächsten Morgen ging es dann zurück nach Reichenow. Vor einigen Jahren hatte er in dem kleinen Örtchen außerhalb Berlins sein Domizil aufgeschlagen. In einem Schloss. Nicht, dass ihm das Anwesen gehörte. Es war auch nur ein Hotel. Darin bewohnte er eine Suite mit Blick auf einen malerischen Park samt Weiher, Schwänen und Enten. Alles sehr idyllisch. Als nomadisierendes Versuchskaninchen hatte Tim es irgendwann nicht mehr als notwendig erachtet, die Zeit zwischen zwei Reisen mit Staubwischen und Aufräumen zu verbringen.
Seitdem lebte er im Hotel. Das war nicht ganz billig, aber für ein Genie eröffnen sich ständig Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Im Februar 2004 hatte er in einer einzigen Quizshow im amerikanischen Fernsehen zehn Millionen Dollar kassiert.
Dagegen waren die soeben eingefahrenen fünfhunderttausend für den Titel des Schachweltmeisters geradezu ein Pappenstiel.
Unbehelligt von anderen Hotelgästen erreichte Tim sein Stockwerk. Vorsichtig spähte er in den Gang, der zwischen ihm und seiner Suite lag. Menschenleer – die japanische Gesellschaft fotografierte wohl längst einen anderen Teil Europas. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, eilte er mit federleichten Schritten durch den Flur. Da klingelte sein Mobiltelefon.
Tim erschrak, griff schnell in die Hosentasche, drückte die Abhebentaste und flüsterte: »Ja?«
»Guten Tag. Hier ist Professor Zircon Afsahi. Spreche ich mit Dr. Labin?«, meldete sich in bestem Oxfordenglisch eine fremde Stimme, ein durchaus angenehmer Bariton, in dem etwas Raues schwang, so, als würde ein Tiger schnurren.
Der Gefragte klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr, um gleichzeitig sprechen und seine Zimmertür öffnen zu können. »Ja. Woher haben Sie diese Nummer?«
»Von einem Freund. Ich…«
»Wer soll das sein? Ich stehe in keinem Telefonbuch«, unterbrach Tim den Anrufer. Er betrat seine Suite, schloss hinter sich die Tür und atmete auf.
»Das spielt für den Freund keine Rolle. Übrigens wollte ich als leidenschaftlicher Schachspieler nicht versäumen, Ihnen zum Weltmeistertitel zu gratulieren.«
»Der ist Schnee von gestern«, versetzte Tim. Ihm gefiel es nicht, wie der Professor einfach über seine Frage hinwegging, und er ließ sich sein Missfallen auch anhören.
»Aber Ihr Triumph liegt doch erst ein paar Stunden zurück«, wunderte sich Afsahi.
»Lange genug, um seine Nutzlosigkeit zu erkennen. Was wollen Sie von mir?«
Der Anrufer brauchte einige Sekunden, um sich vom Small Talk zu verabschieden. »Haben Sie die Ziffern in meinem Brief entschlüsselt?«
»Ja. Was sollte das sein? Britischer Humor? Sie haben mir die Beale-Chiffre untergejubelt.«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«
»Na, wie schon? Ich habe das Zahlenrätsel
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