Der Mann, der nichts vergessen konnte
Tonne werfen und neue schreiben.«
»Nichts für ungut, Professor, aber das halte ich für einen PR-Gag der hübschen Dame aus Yale.«
»Vermutlich, weil Sie bisher nur aus den Medien von unserem Projekt erfahren haben. Da zählen Sensationen mehr als Fakten.«
»Welche Fakten?«
»Ich bin nicht befugt, am Telefon mit Ihnen darüber zu sprechen. Kommen Sie nach Cambridge und helfen Sie uns, dann werden Sie alles erfahren. Wie mir berichtet wurde, haben Sie eine Schwäche für Bibliotheken. Die unsrige ist fast sechshundert Jahre alt. Bitte bedenken Sie, dass die beiden noch unentzifferten Chiffren möglicherweise genauso wie das Blatt II mit einer Buchverschlüsselung codiert wurden. Welche Werke auch immer Thomas Beale dazu benutzt hat, hier in den Sammlungen unserer Universität dürften Sie diese mit großer Wahrscheinlichkeit finden. Wir haben sogar eine Gutenbergbibel. Abgesehen davon hätte die Reise nach England für Sie noch einen anderen Vorteil.«
»Nämlich?«
»Die hübsche Dame aus Yale, wie Sie sie nannten, könnte Ihnen ihre Theorie persönlich erklären. Dr. Jason gehört ebenfalls der Projektgruppe mit dem unaussprechlichen Namen an. Sie wird morgen hier eintreffen.«
Tim kam sich vor wie eine Fliege im Spinnennetz. Erst hatte ihn dieser ausgefuchste Professor unter Ausnutzung seiner sämtlichen Schwächen eingewickelt, und jetzt lähmte er den letzten Widerstandswillen der Beute mit dem betörenden Gift weiblicher Schönheit. »Ich komme«, antwortete Tim benommen. »Aber nur, um mir alle Ihre Argumente anzuhören.«
»Das freut mich…«
»Unter einer Bedingung«, fiel er dem Professor ins Wort.
»Was immer in meiner Macht steht.«
»Ich brauche um mich herum Luft zum Atmen. Im Flugzeug darf niemand neben, vor oder hinter mir sitzen.«
Offenbar hatte Tim es geschafft, seinen Gesprächspartner zu verblüffen, ließ dessen Antwort doch lange auf sich warten.
Danach aber klang sie dafür umso heiterer. »Kein Problem, Dr. Labin. Wünschen Sie auch eine eigene Stewardess?«
»Auf keinen Fall!«
»Schön, schön. Dann werden wir den Flug für Sie buchen. Würde es Ihnen morgen passen?«
Tim dachte nicht lange über die Antwort nach. »Das trifft sich gut. Ich wollte sowieso meine Koffer packen.«
Auf dem Vormittagsflug der British Airways von Berlin nach London saß Tim in der fünfundzwanzigsten Reihe rechts am Fenster, also in größtmöglichem Abstand zu den anderen Passagieren des Fluges Nummer BA991. Er war umgeben von einem Bannkreis aus unbelegten Sitzen, der seinen diversen Ängsten Rechnung trug. In den vergangenen Jahren hatte er manche Einladung ausgeschlagen, weil entweder die Privatjets zu eng oder die Linienmaschinen zu voll gewesen waren.
Trotzdem gab es stets genug Forschungsinstitute mit komfortabler finanzieller Ausstattung, die sich seine Phobien leisten konnten. Und an Superreichen, die ihre Party gerne mit dem klügsten Menschen der Welt schmückten, herrschte ohnehin kein Mangel.
Irgendwo über dem Ärmelkanal entspannte er sich, und ihn überkam der Hunger nach geistiger Nahrung. Beim überstürzten Aufbruch in Berlin hatte er vergessen, sein Handgepäck mit Lesefutter aufzufüllen. Tims Blick wanderte nach links, zum Nachbarsitz jenseits des Ganges, wo eine dralle Mittfünfzigerin auf dem Weg zur Toilette eine Tageszeitung liegen gelassen und nach Erleichterung ihres Fluggewichts nicht wieder mitgenommen hatte. Leider war es keine Times, sondern nur die aktuelle Ausgabe des Daily Telegraph, im Volksmund auch »Torygraph« genannt, weil das Blatt mit seiner konservativen Linie unter den Tories eine treue Leserschaft hatte. Gewöhnlich mied Tim Zeitungen mit knallbunten Titelblättern, weil sich deren Schmierereien in einer Beziehung selbst vom anspruchsvollsten Essay nicht unterschieden: Beides verewigte sich in seinem Gedächtnis dauerhafter als jedes Graffito auf einer Häuserwand. Mangels Alternativen öffnete er trotzdem seinen Sicherheitsgurt und holte sich das Blatt.
Der Aufmacher widmete sich dreispaltig und ziemlich reißerisch der jüngsten Regierungskrise Großbritanniens. Ein Selbstmordanschlag in der Nähe des Flughafens von Basra habe mehr als einhundert britischen Soldaten das Leben gekostet. Er sei der vorläufige Höhepunkt einer ganzen Serie von zuletzt immer dreisteren und brutaleren Angriffen gegen die Royal Army. Das monatelange Herumlavieren des Premierministers in der Irak-Frage wachse sich zu einem ernsten Problem aus, beklagte die
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