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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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enthielten größere, aufs Pfund genau bezifferte Mengen Gold, Silber und Juwelen. Im Papier Nummer eins, so der Verfasser, sei die genaue Lage des Gewölbes beschrieben, in Nummer drei dagegen die Namen der Begünstigten, denen er den Schatz vermachen wolle.
    Demnach, schlussfolgerte Tim, hatte er soeben das Papier Nummer zwei enträtselt. Dabei war er allerdings auf eine Merkwürdigkeit gestoßen. Er hatte sich den Klartext an einigen Stellen zusammenreimen müssen, weil einzelne Buchstaben nicht passten. Sein Gedächtnis arbeitete perfekt, die Ursache für diese »Unscharfe« konnten also keine Erinnerungslücken sein. Die einzige plausible Erklärung überraschte ihn: Die Declaration of Independence, die er mit siebzehn Jahren memoriert hatte, stimmte nicht hundertprozentig mit der von Beale benutzten Fassung überein.
    Vermutlich kursierten zu Lebzeiten des Glücksritters verschiedene Versionen des Dokuments. Im Lichte dieser Erkenntnis fand Tim es gar nicht mehr so abwegig, wenn die Yale-Historikerin von kleineren Abweichungen auf größere schloss. Hatte Beale gar für die Verschlüsselung seines Vermächtnisses den ominösen Urtext der Unabhängigkeitserklärung benutzt…?

    Tim schüttelte unwillig den Kopf. Irgendwie kam er sich gefoppt vor. Jede Indiskretion könne gefährlich sein, hatte Professor Afsahi gewarnt, und jetzt erwies sich dessen Zahlenrätsel als »die berühmteste Geheimbotschaft der Welt«.
    So zumindest hatte die Tribune die Beale-Chiffre beschrieben.
    Wortwörtlich. Und gleich darauf von einem »schon Ende des 19. Jahrhunderts entzifferten Blatt« gesprochen. Ungeachtet des an einigen Positionen knirschenden Textes war Tim überzeugt, soeben im Kopf den Inhalt dieser allgemein bekannten Botschaft zusammengesetzt zu haben. Um sich Gewissheit zu verschaffen, rief er bei der Rezeption an.
    »Hier Labin, Linden Suite im dritten Stock. Können Sie mir ein Büro mit PC und Internetanschluss zur Verfügung stellen?«
    »Selbstverständlich, Herr Labin. Welchen Termin darf ich vormerken?«
    »Jetzt.«
    Wenige Minuten später war Tim online. Er rief im World Wide Web die erstbeste Suchmaschine auf, tippte eine kurze Passage des von ihm decodierten Textes ein und drückte die Enter-Taste. An die sechshundert Treffer wurden angezeigt und bestätigten seine Vermutung. Er hatte das zweite von insgesamt drei Blättern der Beale-Chiffre entziffert. Dutzende von Quellen erzählten die immer gleiche Geschichte: Thomas Jefferson Beale hatte die Papiere Anfang des 19. Jahrhunderts einem Hotelbesitzer in Lynchburg, Virginia, zur Aufbewahrung anvertraut und war danach spurlos verschwunden.
    Tim gab einige andere Suchworte ein – »Jason ›declaration of Independence‹ Beale« – und erhielt umgehend eine lange Liste neuer Ergebnisse. Einige der Treffer verwiesen auf Beiträge in den Online-Portalen großer Zeitschriften und Magazine. In atemberaubendem Tempo saugten Tims Augen sämtliche Informationen über die amerikanische Historikerin und ihre Theorie ein.
    Dr. Jason war im pakistanischen Islamabad geboren und schon als Kind in die Vereinigten Staaten gekommen, nachdem ihre Mutter Tom Frederic Jason, einen Diplomaten aus Fairfield, Connecticut, geheiratet hatte. Nach Ansicht der Historikerin könnte die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika ursprünglich einen von der aktuellen Fassung abweichenden Wortlaut gehabt haben.
    Möglicherweise war die Unabhängigkeit an bestimmte Bedingungen geknüpft, oder in der Urschrift ging es lediglich um die Befreiung von diskriminierenden Handelsbeschränkungen, die das britische Mutterland seinen nordamerikanischen Kolonien auferlegt hatte.
    Als promovierter Jurist kannte Tim sich in rechtlichen Angelegenheiten aus. Sämtliche Standardwerke, auch die des Völkerrechts, lagerten abrufbereit in seinem Gedächtnisspeicher. Daher konnte er die Implikationen der Jason-Theorie einigermaßen abschätzen. Sollte die Historikerin mit ihren Vermutungen richtig liegen, dann wäre die einzige verbliebene Supermacht des Planeten schlimmstenfalls nach wie vor eine britische Kolonie, oder sie hätte bei der Bank of England zumindest Schulden, dass es krachte. Ob eine solche Enthüllung allerdings de facto irgendeine Auswirkung haben würde, erschien ihm mehr als fraglich. Immerhin gab es so etwas wie ein Gewohnheitsrecht, »das Recht, das durch stetige, von Rechtsüberzeugung getragene Übung innerhalb einer Rechtsgemeinschaft entstanden ist«, wie es

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