Der Mann, der nichts vergessen konnte
Gazette unter Berufung auf »gewöhnlich gut unterrichtete Kreise«. Wenn in der Welt – vor allem in der islamischen – der Name des Vereinigten Königreichs falle, denke niemand mehr an den einstigen Ruhm des britischen Empires, sondern nur noch an Tommys, die sich von jedermann verprügeln lassen. Damit müsse endlich Schluss sein. Der Ruf nach Neuwahlen erschalle im Land immer lauter.
Wenige Minuten später war Tim über die wichtigen und vor allem die unwichtigen Entwicklungen in der Welt informiert.
Mit Erleichterung nahm er die Aufforderung der Stewardess zur Kenntnis, man möge sich dazu bequemen, die Sicherheitsgurte im Sinne des Erfinders zu gebrauchen und die Sitze in eine aufrechte Position zu stellen. Kurz darauf landete der Airbus A319 in London Heathrow.
Nachdem Tim in den Besitz seines Gepäcks gelangt war, begann einmal mehr der Spießrutenlauf durch die Menschenmassen. Kein Slalom in einem Skiweltcup war je so anspruchsvoll abgesteckt wie der Kurs, den er durch die Empfangshalle zum Taxistand nahm. Zielstrebig steuerte er eine kastenförmige Benzinkutsche an, die – nicht ganz stilecht – weinrot lackiert war. Erst als er in dem London Cab saß, fühlte er sich einigermaßen geborgen.
»Guten Tag. Zur Faculty of Asian and Middle Eastern Studies der University of Cambridge bitte. Das liegt in der Sidgwick Avenue«, sagte er in erlesenem Englisch zu dem Fahrer, einem etwa dreißigjährigen Bullen mit kurz geschorenen Haaren, Ohrring und einer Tätowierung im fleischigen Nacken.
»Ist das Ihr Ernst? Wissen Sie, wie weit das ist?«, fragte der Mann am Steuer im breitesten Cockney. Seine blauen Augen hoben sich aus einem Magazin schlüpfrigen Inhalts und musterten Tim argwöhnisch im Rückspiegel.
»Ja, einhunderteinundvierzig Kilometer, sofern Sie über die M4, M25 und M11 nach Nordosten fahren«, gab dieser Auskunft. Dergleichen einem Londoner Cabby zu erklären kam einer Beleidigung gleich.
»Kilometer gibt’s nur auf dem Kontinent. Hier wird in britischen Meilen gerechnet«, grunzte der Taxifahrer.
»Guter Mann, mir ist es so was von egal, ob es einhunderteinundvierzig Kilometer sind oder siebenundachtzig Komma sechs eins drei drei… «
»Warum fahren Sie nicht mit dem Zug?«
»Zu viele Leute.«
»Das wird aber teuer. Ich muss die Rückfahrt berechnen.«
»Wie schön für Sie.«
Der Fahrer kapitulierte. Unwirsch warf er die erotische Lektüre auf den Beifahrersitz, startete den Motor, legte den Gang ein und setzte seine rote Kiste in Gang.
In den nächsten anderthalb Stunden herrschte eisiges Schweigen. Tim war das nur recht. Er verabscheute oberflächliche Konversation – zu viele leere Worthülsen, die man nicht mehr loswurde. Eine Zeit lang genoss er einfach den Blick aus dem Wagenfenster. Die Briten hatten so viele drollige Eigenarten, angefangen beim Linksverkehr bis hin zur Verweigerungshaltung gegenüber den metrischen Maßen oder dem Euro. Vermutlich spiegelte sich in solchen Schrullen die Sehnsucht nach der einstigen Größe eines Reiches, das die ganze Welt nach seiner Pfeife hatte tanzen lassen.
Im Stadtbild von Cambridge konnte man noch das Echo dieser goldenen Ära vernehmen. Die ruhmreiche Geschichte des Empire war hier gleichsam in ehrwürdiger Architektur erstarrt. Jede Epoche hatte sich ihre eigenen Denkmäler gesetzt, von der Gotik bis zum viktorianischen Stil, von den nüchternen Zweckbauten der Nachkriegszeit bis zu den ultramodernen Geschmacksverirrungen der Neuzeit. Irgendwo dazwischen lag das in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts entworfene, von Sachlichkeit beherrschte Sidgwick-Areal, in dem verschiedene Fakultäten residierten, darunter auch diejenige für Studien Asiens und des Mittleren Ostens.
Kurz nach zwei Uhr nachmittags erreichte das Taxi sein Ziel.
Tim bezahlte den Fahrer, schleppte seinen Koffer zwischen den Gebäuden der Klassischen Fakultät hindurch und strebte über einen begrünten Innenhof auf das schmucklose, viergeschossige, der Orientalistik gewidmete Haus zu. Afsahi hatte offenbar einen Spähposten abkommandiert, der seine Ankunft melden sollte, denn als Tim das Hauptportal durchschritt, eilte ihm auch schon ein großer, aschblonder Bursche mit pickeligem Gesicht entgegen, dem Aussehen nach ein Frischling, ein Student im ersten Jahr.
»Dr. Labin?«
»In persona«, bestätigte dieser.
Der junge Mann streckte ihm freudestrahlend die Rechte entgegen. »Mein Name ist Paul Butcher. Herzlich willkommen in Cambridge, Doktor. Ach ja,
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