Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
kein hoffnungsloser Fall. Wenn man mir den Kontakt zu anderen Menschen nicht aufzwinge, sondern mein Sozialverhalten behutsam an die Normen der Gesellschaft heranführe, dann könne ich eines Tages ganz normal werden. Ich bin mir nur nicht sicher, ob dieser Zustand überhaupt erstrebenswert ist.«

    »Sind Ihre psychischen… Besonderheiten eine Folge der Verletzungen, die Sie als Kind erlitten haben?«
    »Vermutlich. Der Sturz hat mich emotional zu einem Krüppel gemacht und gleichzeitig zu einem Savant.«
    »Ein Wissender«, übersetzte Afsahi das französische Wort in ehrfürchtigem Ton.
    »Das klingt aus Ihrem Munde sehr schmeichelhaft, aber so war der Terminus ursprünglich nicht gemeint. Er stammt aus dem 19. Jahrhundert, von einem Arzt namens John Langdon-Down. Einer seiner Patienten hatte nach unseren Maßstäben einen IQ von 25, konnte allerdings Edward Gibbons Buch Aufstieg und Untergang des römischen Imperiums nach einmaligem Lesen auswendig aufsagen. Deshalb prägte der Doktor den Begriff idiot-savant – ›Idioten-Gelehrter‹.«
    »Höre ich da einen Anflug von Bitterkeit?«
    »Möglicherweise. Idioten und Genies teilen dasselbe Schicksal: Sie sind Außenseiter.«
    »Nun, ich biete Ihnen an, in einem Team mitzuarbeiten, in dem jeder seine persönlichen Stärken einbringt, um den gemeinsamen Erfolg voranzutreiben. Das müsste für Sie doch verlockend klingen.«
    »Welche Rolle spielt Dr. Jason in dieser Gruppe?«
    Afsahi schmunzelte. »Sagen wir, sie wird Ihre Muse sein.«
    »Und wann treffe ich sie?«
    »Heute Abend bei mir zu Hause. Sie sind beide zum Dinner eingeladen. Vorher können Sie in Ruhe Ihre Koffer auspacken – Ihr Quartier ist nur ein paar Minuten zu Fuß von hier –, und wenn Sie möchten, unternehmen Sie anschließend einen Spaziergang durch die historische Innenstadt. Später lassen Sie sich dann einfach mit dem Taxi zu mir rüberfahren. Betty wird Ihnen die Adresse geben. Seien Sie bitte pünktlich. Um acht wird angerichtet.«

    Zircon Afsahi bewohnte ein fast zweihundert Jahre altes Haus in der Millington Road, weniger als fünfzehn Gehminuten südwestlich des Instituts gelegen. Das aus vorviktorianischer Zeit stammende Gebäude wirkte mit seinen Wänden aus geglätteten Feldsteinen so trutzig wie eine Burg.
    Zu beiden Seiten der überdachten Eingangstür ragten spitzgiebelige, mit Sprossenfenstern versehene Erker in den gepflegten Vorgarten hinaus. Rechts brannte Licht. Tim sah hinter der Scheibe Bücher, Bücher und nochmals Bücher. Das Zuhause des Professors war ihm auf Anhieb sympathisch.
    Um Punkt zwanzig Uhr drückte Tim den Knopf der Messingklingel am gemauerten Pfosten bei der Gartenpforte.
    Ein dezenter Summton ertönte, und das hölzerne Tor sprang auf. Ehe die vier oder fünf Meter des Gärtchens durchmessen waren, öffnete sich schon die Haustür, und Afsahi erschien. Er hatte sein Jackett durch eine schieferfarbene Strickjacke ersetzt, trug ansonsten aber noch dieselbe Garderobe wie im Institut. Er winkte dem Besucher zu.
    »Willkommen. Treten Sie ein.«
    In einer kleinen Diele entledigte sich Tim seines Trenchcoats.
    Ein verführerischer Duft lag in der Luft.
    »Was riecht hier so gut, Professor?«
    »Roastbeef. Rose macht das beste der Welt. Sie ist der gute Geist in diesem Haus: putzt, kocht, hält den Garten in Schuss.«
    »Ist sie genauso resolut wie Betty?«
    Afsahi lachte auf eine angenehm stille Weise. »Manchmal schon. Aber der alte Perser Zircon hat eine Schwäche für starke Frauen. Bitte kommen Sie ins Wohnzimmer. Bevor wir uns den kulinarischen Genüssen hingeben können, müssen wir noch auf Dr. Jason warten. Sie hat eine weniger… deutsche Auffassung von Pünktlichkeit.«
    Afsahi führte den Gast in ein geräumiges Wohnzimmer, das alle Klischees bediente, die man von einem leicht zerstreuten Cambridge-Professor nur haben konnte. Wohin das Auge auch blickte, herrschte eine für Tim beunruhigende Unordnung.
    Nicht nur in den Regalen, die er schon von der Straße aus gesehen hatte, nein, überall waren Bücher und Dokumente. Sie stapelten sich auf dem Boden, auf Tischen und Stühlen.
    Souvenirs – vorwiegend orientalischer Herkunft – nahmen die wenigen freien Stellflächen ein.
    Dann erweckte ein Schachbrett auf einem Tischchen in der Fensternische seine Aufmerksamkeit. Neben den zweiunddreißig Figuren befanden sich darauf auch Weinkorken, Schneckenhäuser und Muschelschalen. In Tims Geist glühten Lichter auf, das untrügliche Zeichen, in diesem

Weitere Kostenlose Bücher