Der Mann, der nichts vergessen konnte
Angabe. Ich wusste nur von einer Dummheit…« Jamila verstummte mitten im Satz, doch an ihren Augen konnte Tim erkennen, dass ihre Gedanken keineswegs ruhten.
»Was für eine Dummheit?«
Sie hob träge die Schultern. »Als Siebzehnjähriger war er wie viele seines Alters impulsiv und für allerlei radikale Ideen sehr empfänglich. Im November 1979 mischte er sich unter den Mob, der die US-Botschaft in Islamabad niederbrannte. Ein Marine wurde dabei getötet. Aus Angst vor Verhaftung floh Azam zu unseren Verwandten nach Afghanistan, obwohl dort gerade der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Vor etwa einer Stunde habe ich einen Anruf aus dem NSA-Hauptquartier in Fort Meade erhalten und erfahren, dass Azam sich offenbar einer terroristischen Zelle angeschlossen hat. Vermutlich Al-Qaida. Die Mistkerle müssen ihn auf mich angesetzt haben, weil sie hofften, unser Verwandtschaftsverhältnis für ihre Zwecke ausnutzen zu können.«
»Al-Qaida?«, wiederholte Tim entgeistert. Wie oft hatte er mit dem bequemen Entsetzen eines Fernsehzuschauers die Opfer terroristischer Anschläge bedauert, und jetzt befand er sich womöglich selbst im Fadenkreuz dieses menschenverachtenden Netzwerks? Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber… aber… warst du nie versucht, deine NSA-Kontakte schon früher zu benutzen, um den Aufschneidereien deines Bruders auf den Grund zu gehen?«
»Natürlich. Ich hab’s sogar getan. Aber für einen Außenstehenden sagt sich so was leichter, als es in Wirklichkeit ist. Es gibt ein vielstufiges Sicherheitssystem, und meine Freigabe reichte gerade aus, um ein paar biografische Daten über Azam abzufragen: Er war Anhänger der DVPA, der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, und hat von 1980 bis ‘83 in Berlin Ingenieurwesen studiert. Man kann viel darüber spekulieren, welche Verdienste ihm diese für afghanische Verhältnisse teure Ausbildung eingebracht hat.
Echte Fakten habe ich keine.«
»Beim Namen der Stadt geht in meinem Kopf eine Lichterkette an«, murmelte Tim.
Sie sah ihn verständnislos an.
Er lächelte schief. »Ist so eine Macke von mir, so eine Art Rasterfahndung meines Unterbewusstseins, gegen die ich machtlos bin: Wenn ich etwas aufschnappe, das zu meinen Erinnerungsmustern passt, dann brennt in meinem Kopf eine Wunderkerze ab.«
»Und?«
»Berlin«, sagte er, als sei damit alles erklärt. Als er die großen Fragezeichen in ihren Augen sah, fügte er hinzu: »Dein Bruder war in Berlin. Thomas Beale und seine Vertrauten Jacob Rosenholz, Harry Heine und Rahel Varnhagen von Ense lebten zeitweilig dort. Die Rosenholz-Dateien wurden in Berlin gestohlen. Und ich, Tim Rosenholz, stamme ebenfalls von dort. Irgendwie auffällig, findest du nicht?«
»William Russel war auch…« Jamila erschrak.
Tim hatte das Gefühl, sie bedauerte ihre Worte, doch jetzt wollte er es genau wissen. »Du meinst, der William H. Russel, den Beale in seinem Vermächtnis aufgelistet hat?«
Sie nickte. »Er ist ein Spross aus dem Opium-Imperium Russel and Company. In Yale ist sein Name Legende, weil er 1832 die Geheimgesellschaft Skull and Bones gegründet hat.
So geheim, wie sich das anhört, ist sie aber nicht. Sie gilt bis heute als die angesehenste und einflussreichste studentische Verbindung der Universität.«
»›In den wenigen Zeilen stecken so viele neue Aspekte.‹«
»Wie bitte?«
»Ich habe nur wiederholt, was Zircon gestern Mittag über das Blatt III der Beale-Chiffre gesagt hat, bevor er uns hinauskomplimentierte. Und jetzt ist er tot.« Tim schüttelte den Kopf. »Ich kann’s immer noch nicht fassen.«
Jamilas Augen wurden glasig, so, als blicke sie in weite Ferne.
»Woran denkst du?«, fragte Tim.
Sie sah auf den Tisch, wo ihre Hände lagen. »An Karim. Er ist der Freund, von dem ich dir erzählt habe. Im letzten Jahr habe ich ihn tot in der Badewanne gefunden.«
Tim spürte einen eiskalten Schauer. »Jetzt werden mir ein paar von deinen Andeutungen klarer. War es ein Unfall?«
»So steht es im Polizeibericht.«
»Du scheinst anderer Ansicht zu sein.«
Ihr Blick löste sich von den Händen, doch nicht, um Tim anzusehen. Sie starrte nur geradeaus ins Leere. Selbst einem empathisch so kurzsichtigen Mann wie ihm konnte nicht entgehen, dass sie darüber nicht reden wollte. Irgendetwas war faul an dieser Geheimdienstsache, diesem global ausgespannten Netz, in dem Terroristen und andere Staatsfeinde der USA und Großbritanniens gefangen werden sollten. Aber was? Tim kam nicht
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