Der Mann, der nichts vergessen konnte
drauf…
Unvermittelt hatte sich Jamila ihm zugewandt und mit ihren hypnotischen Augen seine Gedanken festgenagelt. »Wirst du weitermachen?«
»W-was?«
»Blatt I der Beale-Chiffre muss noch entziffert werden. Hilfst du uns dabei?«
»Ist das dein Ernst, mich jetzt danach zu fragen?«
»Eigentlich war es mein Vorgesetzter, der mich heute früh darum bat.«
Er schnaubte. »Dein Boss ist mir so was von egal. Möchtest du, dass ich weitermache?«
Sie wich seinem fragenden Blick aus. »Ich bitte dich darum.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
»Ich bin mir nicht sicher. Das letzte Mal, als ich einen Freund in ein Projekt geholt habe…« Trotzig sah sie ihn wieder an.
»Ja, ich will es.«
In Tims Ohren hörte sich ihre Antwort an wie: Nein, reise ab und halt dich fern von mir. Aber ihm war nicht entgangen, dass sie ihn soeben ihren »Freund« genannt hatte. Dieses kleine Wort fegte alle seine Zweifel hinweg. »Na schön, dann mache ich weiter.«
»Danke«, flüsterte sie und lächelte traurig.
Er legte seine Hand auf die ihre. Zu seinem Erstaunen ließ sie es geschehen, ja, zuckte nicht einmal. »Stürzen wir uns in die Arbeit, Jamila«, sagte er sanft. »Das reinigt den Geist von düsteren Gedanken.« Ein paar Sekunden lang fühlte er sich, als wären sie ein Paar…
»Tim? Woher kanntest du den Familiennamen meines Bruders?«
Der wunderbare Moment der Nähe zerstob. Eigentlich hatte er sich mit dieser Information aus dem Projekt loskaufen wollen. Doch jetzt, da er Jamilas kühle Hand umschlossen hielt, hätte er ihr alles verraten. Das Bild des Schachbretts neben Afsahis Leiche erschien in seinem Kopf. »Ich habe es im Traum herausgefunden. Letzte Nacht.«
»Willst du dich über mich lustig machen?« Sie versuchte, ihre Hand zurückzuziehen, doch er hielt sie fest.
»Hör mich erst an, bevor du urteilst«, verlangte er.
Sie blickte auf die ineinander verschlungenen Hände und nickte.
Tim erinnerte sie an die seltsamen Arrangements auf Afsahis Schachbrett, die ihm schon mehrmals aufgefallen waren; jedes Mal habe es dabei in seinem Geist gefunkelt. Dadurch hatte ihm sein Gehirn mitteilen wollen, dass es eine verborgene Bedeutung in den Stellungen gab. Doch erst im Traum war er auf den Morsecode gestoßen.
»Morsecode?«, wiederholte Jamila ungläubig.
»Ja. In Wahrheit hat der Professor sich eines simplen Codes bedient, aber das habe ich erst nach dem Aufwachen herausgefunden.«
»Ach!«
»Pass gut auf: Das Schachbrett besteht aus vierundsechzig Feldern, nicht wahr? In der Computersprache entspricht dies acht mal acht Bits. Durch den Wechsel von leeren und besetzten Feldern lassen sich also acht Zeichen verschlüsseln.
Und wenn man den vereinfachten Zeichencode aus der Frühzeit der Computertechnik nimmt, der sich auf vier Bits je Zeichen beschränkt, dann lassen sich auf einem Brett sogar sechzehn Zeichen codieren. Als ich so weit war, ist in meinem Kopf ein Funkengewitter ausgebrochen. Ich habe die Figurenstellung in den ASCII-Code übersetzt und daraus eine Buchstabenfolge abgeleitet.«
»Und?«, fragte Jamila gespannt.
»Bei den Stellungen, die ich früher bemerkt hatte, kamen nur Zahlenketten heraus – vermutlich ein weiterer Code –, nicht aber bei der letzten. Es war eine Botschaft von Professor Afsahi an uns. Sie lautete: ›AZAMZARDAH.‹«
Kurz vor zehn war Tim von Jamila vor die Tür gesetzt worden: Sie müsse noch einige Anrufe tätigen, und die Polizei warte ebenfalls ganz sehnsüchtig auf sie. Er solle sich ablenken, etwas Abstand gewinnen, vielleicht ein paar Sehenswürdigkeiten ansehen. Später werde sie sich bei ihm melden.
Eine dieser Sehenswürdigkeiten wäre ihm fast zum Verhängnis geworden. Sightseeing war ihm entschieden zu gefährlich. Aber was sonst sollte er bei dem unangenehmen Novemberwetter in Cambridge tun? Es war Sonntag. Die Bibliothek hatte geschlossen. Frühestens am nächsten Morgen würde er sein zentrales Nervensystem wieder mit Informationen überfluten können. Tim wurde kribbelig, und mit jeder Stunde sollte es schlimmer werden. Um die Entzugserscheinungen in den Griff zu bekommen, besuchte er das Fitzwilliam, »The finest small museum in Europe«, wie es so schön hieß. Das feine kleine Museum umschmeichelte seine Sinne mit allerlei Künstlerischem mehr oder weniger großer Meister. Bei der Versenkung in einen Tizian ereilte ihn ein brutaler Klingelton und gleich darauf der strafende Blick einer Museumswärterin.
Tim verzog sich mit seinem Handy
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