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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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lag auf dem Rücken in einer Lache von Blut. Ein Bein war auf bizarre Weise abgeknickt. Unter dem zerschmetterten Leib quollen Eingeweide hervor.
    Jamila schien die schaurigen Umstände nicht einmal zu bemerken. Sie kniete neben der Leiche von Mr. Pain, seine Skimaske in der Hand. Das Gesicht des Mannes war in einem Ausdruck des Schreckens erstarrt, aber nicht entstellt, abgesehen von dem Makel, den er schon vor dem tödlichen Sturz gehabt hatte: die fehlende linke Augenbraue. Jamilas Körper bebte. »Azam, nicht auch noch du!«, klagte sie.
    »Noch ein Bekannter?«, fragte Tim, obwohl das offensichtlich war.
    »Ja«, schluchzte sie, ohne ihn anzusehen. »Azam ist mein Bruder.«

    Tims Gesicht lag auf kaltem Beton. Klamme Kälte drang in seine Glieder. Er stemmte sich gegen die Fesseln an, doch der Strick, in dem er förmlich verpuppt war, gab keinen Millimeter nach. Plötzlich beugte sich eine dunkle Gestalt über ihn. Nur ihre Augen blinkten feurig in der Finsternis: Die roten Lichter gingen an, die roten Lichter gingen aus.
    »Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst, dann lass ihn sich selbst besiegen«, sagte mit einem Mal eine kalte Stimme. Sie schien mitten in Tims Kopf zu schweben.
    Unvermittelt flammte vor seinem Gesicht ein Streichholz auf.
    Die Flamme flackerte blutrot. Der Schemen hielt sie ans Ende des Stricks, mit dem Tim gefesselt war. Er geriet in Panik. Die lange Schnur, in der er wie ein Rollbraten eingewickelt war, begann Funken zu sprühen. Langsam schlängelte sich die brennende Lunte von seinen Füßen an aufwärts am Körper empor. Immer höher. Er spürte die sengende Hitze, doch das Feuer verbrannte ihn nicht, noch vermochte es ihn von den Fesseln zu befreien. Die Asche hielt ihn weiter fest, aber – und das war nun wirklich absurd – alle paar Zentimeter löste sich etwas aus dem Strick und fiel klappernd zu Boden. Das Klacken war nicht gleichmäßig, sondern hörte sich eher an wie – ein Morsecode? Tim presste das Kinn auf die Brust, um an sich herabzublicken, und während die Flamme höher stieg, erkannte er die Dinger, die wie Kerzen an einer Lichterkette in der Schnur hingen.
    Es waren Schachfiguren, Schneckenhäuser und Muscheln.
    Inzwischen hatten die Funken fast seinen Hals erreicht, und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass die Zündschnur in seinem Ohr endete. Er begann zu schreien.
    Nach Atem ringend, fuhr Tim aus dem Bett hoch.
    Es war ein Traum, beruhigte er sich. Nur ein grässlicher Albtraum.

    Als Tim am Morgen vor dem üppig gedeckten Frühstückstisch saß, fühlte er sich wie gerädert. Der Mord am Professor und die erlittenen Torturen hatten ihn bis in die Träume verfolgt. Er wusste, dass all die entsetzlichen Bilder für immer an ihm hängen würden wie verkrüppelte Gliedmaßen. Echte Missbildungen ließen sich wenigstens operieren und amputieren, aber die grauenvollen Erinnerungen hatten sich längst unlöschbar in sein Gehirn eingebrannt. Er war der Mann, der nichts vergessen konnte.
    Im Gegensatz zu anderen Menschen, die sich schon bald nicht mehr an ihre Träume erinnern konnten, blieben ihm alle Einzelheiten ein Leben lang erhalten, die schrecklichen, grotesken und die nützlichen. Die Brieftauben aus dem Unterbewusstsein, wie er es manchmal scherzhaft nannte. In der letzten Nacht hatte ihn solch ein Vögelchen besucht…
    »Sie sind ja leichenblass, Dr. Labin. Sie müssen etwas essen.
    Bitte nehmen Sie doch wenigstens einen Toast«, bedrängte ihn Mrs Atkinson. Nicht zum ersten Mal. Seine Wirtin war biologisch Anfang vierzig, in ihrem Wesen aber mindestens sechzig und von ihrer Fürsorglichkeit um den Logiergast her eine Urgroßmutter. Mrs Atkinson hatte die außergewöhnlichen Umstände seiner Heimkehr am vergangenen Abend mitbekommen.
    Er war von einem Polizeiwagen vor dem Haus im Saint Marks Court abgesetzt worden. »Ich bin überfallen worden«, hatte er ihr erklärt und sich sofort auf sein Zimmer zurückgezogen. Jetzt, am Morgen, nötigte sie ihn zur Energieaufnahme, doch er hatte weder Hunger noch Durst und rührte das Frühstück nicht einmal an. Mit leerem Blick starrte er auf den Fernseher, der auf einer Anrichte jenseits des Tisches stand und nicht einmal eingeschaltet war. Unvermittelt – diesen Eindruck jedenfalls musste Mrs Atkinson gewinnen – sprang er vom Esstisch auf, stammelte: »Ich… muss zu ihr«, und verließ das Haus.
    Bis zum Ausgang der Sackgasse merkte er nicht einmal, dass er den Schirm vergessen hatte, obwohl der erst zwei

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