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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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in eine Ecke, um das Gespräch entgegenzunehmen. Es war Jamila. Sie teilte ihm mit, die »Regelung der Vorfälle« beanspruche sie stärker als erwartet, sie werde sich erst am folgenden Vormittag wieder mit ihm treffen können.
    Für den Rest des Tages tat Tim, was er am meisten hasste. Er schlug die Zeit tot.
    Am nächsten Morgen traf er um Punkt neun Uhr vor der Universitätsbibliothek ein. Auf den Stufen unterhalb des Turms zeugte nur noch ein dunkler Fleck von den furchtbaren Ereignissen der vorletzten Nacht. Tim baute sich demonstrativ vor der Tür auf und begehrte Einlass. Sein Geist lechzte nach Nahrung. Er kam sich vor wie ein Drogensüchtiger auf Entzug.
    Als sich die Pforten mit dreiminütiger Verspätung endlich öffneten, eilte er mit fliegenden Schößen zur Ausgabestelle, um sich seine Tagesdosis abzuholen.
    Überraschenderweise stellte sich der Rausch des Memorierens bei ihm nur mit Verzögerung ein, zu aufgewühlt war er immer noch von den Erlebnissen des Samstagabends.
    Zur Mittagszeit, er hatte seinem Gedächtnis immerhin vier neue Bücher einverleibt, stand Jamila vor ihm.
    »Wenn du wissen willst, woran Professor Afsahi gestorben ist, dann komm mit«, flüsterte sie und lief zum Ausgang des Lesesaals.
    Er folgte ihr in ein verwaistes Büro, wo sie die Nummer eines Kriminalbeamten wählte. Während es an der Gegenstelle läutete, holte sie ihr Ringbuch und einen Filzschreiber aus der Collegemappe. Ihr Gesicht hellte sich auf.
    »Hallo, Inspektor, hier ist noch einmal Jamila Jason. Haben Sie schon die Ergebnisse?«
    Sie lauschte eine Weile mit versteinerter Miene, machte Notizen und sagte unvermittelt: »Warten Sie! Könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen? Dr. Labin steht neben mir. Ich schalte auf Lauthören.«
    Sie drückte einen Knopf am Apparat, und Tim vernahm eine schnarrende Stimme.
    »… Dekan wurde vergiftet.« Es raschelte, und dann klang die Stimme so, als lese ihr Besitzer von einem Blatt ab. »Die Substanz wurde rektal verabreicht… In Afsahis Anus steckte ein schwarzer König. Eine Schachfigur… An ihr fand sich ein Gemisch von Alkaloiden und anderen Stoffen, die zu rasch fortschreitenden Muskellähmungen führen. Der Ärmste konnte sich nicht mehr rühren, aber er war bei vollem Bewusstsein, als das Ende kam. Die eigentliche Todesursache lautet
    ›Suffokation‹ – er ist erstickt. Der Professor war schlicht nicht mehr in der Lage zu atmen. Sein Mörder muss ein Psychopath gewesen sein.«
    Tim erschauerte. Nicht allein wegen der nüchternen Art und Weise, in der über ein so grausames Ende referiert wurde, sondern weil es in seinem Geist wieder zu funkeln begonnen hatte. Erinnerungsglitter flatterte, scheinbar wahllos, durch seinen Sinn: Fortschreitenden Muskellähmungen … war bei vollem Bewusstsein, als das Ende kam… Einige der exotischeren Techniken sind kaum als äußere Ursache nachzuweisen … Er hatte sich schon früher mit der Wirkung von Kurare beschäftigt, das die Indios Südamerikas als Pfeilgift bei der Jagd benutzten. In der richtigen Dosierung lähmte es zwar die Bewegungsfähigkeit der Beute, tötete sie aber nicht. Doch nicht diese Erinnerung war für das Glitzern in seinem Kopf verantwortlich, sondern eine andere, die er nicht greifen konnte…
    Jamila schüttelte den Kopf. »Ich würde Ihnen recht geben, wenn es sich um einen Einzeltäter handelte, aber es waren vermutlich drei Männer an dem Mord beteiligt«, erinnerte Jamila den Polizisten. »Dieselben Afghanen, die Dr. Labin fast vom Bibliotheksturm geworfen hätten. Ich denke eher, die Täter wollten jemandem durch die Art der Tötung eine Botschaft zukommen lassen.«
    »Ach«, schnaubte der Inspektor. »Und welche Botschaft soll das sein? Vielleicht: ›Eure Monarchie ist im Arsch‹? Da hätten sie aber die Königin anstelle des Königs nehmen müssen.«
    Tim riss die Augen auf. »Er hat recht!« Mit einem Mal glaubte er, die Bedeutung der grausamen Botschaft zu verstehen.
    Jamila musste irgendetwas Außergewöhnliches in seinem Gesicht bemerkt haben, das sie sofort reagieren ließ. »Ich rufe Sie später zurück, Inspektor. Danke einstweilen.« Ehe der Beamte noch etwas sagen konnte, hatte sie aufgelegt und wandte sich an ihren Partner. »Womit hat er recht?«
    »Dein Stiefbruder – oder sollte ich besser sagen, Mr Pain? –, er brüstete sich damit, ›einen Menschen auf tausend Arten quälen, ihn foltern, verstümmeln oder töten‹ zu können, ›ganz, wie es die Situation erfordert‹.

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