Der Mann, der nichts vergessen konnte
dem Niedergang zu, streng darauf achtend, das schwarze Rechteck der offen stehenden Stahltür und nichts als dieses anzusehen. Seine Gefühle waren verletzt. Insgeheim schalt er sich einen Trottel, weil er ernsthaft gehofft hatte, Jamila könne für ihn dasselbe empfinden wie er für sie. Sie hatte ihn nur ausgenutzt.
Das rote Licht ging wieder an, und Tim war ein bisschen überrascht, weil plötzlich zwei Männer in dunklen Kampfanzügen vor ihm standen. Hinter ihnen huschten weitere aus dem Niedergang aufs Dach. Alle hatten Helme mit heruntergelassenen Plexiglasvisieren und kleine, kurzläufige Maschinenpistolen vor der Brust. Die Laserzieleinrichtungen der automatischen Waffen kritzelten rote Punkte auf Tims Brust.
»Nicht schießen, Commander! Er gehört zu uns«, rief Jamila von hinten.
Einer der Elitekämpfer hob die Hand zum Gruß an den Helm.
»Entschuldigen Sie die Verspätung, Ma’am. Aber wie ich sehe, sind Sie auch ohne uns zurechtgekommen.«
»Ja. Es wäre trotzdem nett, wenn Sie mir beim Aufräumen helfen.«
Tim kam sich mit einem Mal wie ein Statist vor, dessen einzige Aufgabe darin bestand, dumm herumzustehen.
»Sind sie tot?«, fragte der Truppführer.
»Ich hoffe nicht, abgesehen von dem, der über die Brüstung geflogen ist.« Sie deutete auf Gegner Nummer zwei. »Bei dem bin ich mir nicht sicher, ob er erstickt ist. Ich musste in der Eile den Larynx-Schlag anwenden.«
Der Kommandeur ging zu dem Vermummten, zog ihm mit einem Ruck die Maske vom Kopf und betrachtete kurz das erschlaffte Gesicht. Es war ungefähr vierzig Jahre alt und unverkennbar orientalisch. »Araber«, konstatierte der Elitesoldat.
Tim der Statist wurde in diesem Moment wieder zu Tim dem Wissenden. Er kannte Jamila inzwischen gut genug, um ihre Körpersprache leidlich zu deuten: Irgendetwas hatte ihr gerade einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Ihre Augen waren noch größer geworden, sie wirkte ungewohnt steif, wie eine hölzerne Marionette stolperte sie zu dem am Boden liegenden Mann. Dann sagte sie: »Nein, Afghane.«
Im nächsten Moment wirbelte sie herum und rannte zum Niedergang.
Tim lief hinterher. Was immer sie ihm angetan hatte, es war in diesem Moment einer großen Sorge um sie gewichen. Im Treppenhaus brannte inzwischen Licht. Er holte sie beim Fahrstuhl ein.
»Woher kennst du diesen Mann, Jamila?«
Sie antwortete nicht, wippte nur ungeduldig in den Knien, weil der Fahrstuhl nicht kam.
»Antworte mir!«, verlangte Tim energisch.
Jamila sah ihn unvermittelt an. In ihren grünen Jadeaugen funkelte eine Angst, die so gar nicht zu der coolen Spionin passte. »Er war einmal bei mir zu Hause.«
»Was? Wo? In Islamabad?«
»Nein. In Fairfield.«
Tim hatte das Gefühl, der ganze Turm finge an zu schwanken. »Du hast diesen Mann in Connecticut getroffen?«
»Ja. Nein! Nicht getroffen. Ich war noch ein Teenager.
Jemand hat ihn zu einem Familienfest mitgebracht.«
Die Fahrstuhlkabine erreichte mit einem metallischen Knarren das Obergeschoss. Anstatt auf Tims Frage einzugehen, stürzte Jamila in den Lift. Sie hielt ihm die Tür auf. »Was ist? Kommst du mit oder nicht?«
Angstvoll blickte er auf die enge Kabine.
»Dann bleib eben hier«, sagte sie, trat zurück und hämmerte auf die untere Etagentaste.
Seine Hand schnappte nach dem davonschwingenden Griff, er stieß einen leisen Fluch aus, öffnete wieder die Tür und stieg zu Jamila in den Fahrstuhl.
Nach einer bedrückenden Gedenkminute ging ein furchterregender Ruck durch die Kabine, und sie ächzte in die Tiefe.
Tim stand an der hinteren Fahrstuhlwand, die Augen geschlossen und murmelte: »Warum tue ich das?«
Jamila antwortete nicht. Sie schien andere Probleme zu haben, als auf die Klaustrophobie ihres Mitfahrers Rücksicht zu nehmen.
Er sah sie wieder an und zwang sich zu ruhigem Atmen.
»Dieser Jemand… der den Kerl von da oben mitgebracht hat – wer war das?«
Sie blieb stumm. Sah nur ungeduldig auf das Fenster der Fahrstuhltür, in dem ein Stockwerk nach dem anderen vorüberzog.
Tim begriff, dass dies für sie nicht der Moment zum Reden war. Also wartete auch er, bis der Lift das Erdgeschoss erreichte.
Kaum war die Kabine zum Stillstand gekommen, stürzte Jamila auch schon hinaus, eilte in die Vorhalle der Bibliothek, vorbei an weiteren Uniformierten des Sondereinsatzkommandos und rannte hinaus zu der Freitreppe unterhalb des Turms.
Als Tim sie eingeholt hatte und die auf den Stufen liegende Leiche sah, musste er würgen. Der Tote
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