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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Genau so hat er sich ausgedrückt. Der schwarze König in Zircons Darmausgang ist mehr als eine Perversität. Auf dem Flug hierher habe ich im Daily Telegraph gelesen, die Anschlagsserie islamischer Extremisten im Irak hätte Großbritannien in eine Regierungskrise gestürzt. Ich habe bemerkt, dass dir einige von Zircons, gelinde ausgedrückt, konservativen Äußerungen gegen den Strich gegangen sind. Mal angenommen, seine Neuen Loyalisten wollten durch die Veröffentlichung der entschlüsselten Beale-Papiere die politische Stimmung im Land ausnutzen, um an die Macht zu gelangen und ihr großes Ziel zu verwirklichen: eine Renaissance des britischen Empire mit den Vereinigten Staaten als kostbarstes Kronjuwel oder zumindest als munter sprudelnde Einnahmequelle.«
    »Ich gebe dir insofern recht, als die Analytiker der CIA die Stimmung im Vereinigten Königreich mit Sorge verfolgen.
    Nicht wenige hier hegen einen Groll über Großbritanniens Rolle als Schwanz, mit dem der Hund USA nach Belieben wedelt. Niemand traut den Neuen Loyalisten zu, eine Regierungsmehrheit zu erlangen, aber schon der Einzug ins Parlament würde dem Ansehen der Briten weltweit schaden.«
    »In Deutschland haben Protestwähler die Ultrarechten schon in Landesparlamente gehievt. Wenn dein Stiefbruder irgendeiner islamisch-fundamentalistischen Terrorzelle angehört und Zircon erpresst hat, dann dürften die Hintermänner ihre eigenen Pläne mit der Beale-Chiffre verfolgen. Zwar ist jede Schwächung der Vereinigten Staaten für die Fundamentalisten im islamischen Lager ein Sieg, aber ein Aufblühen der Neuen Loyalisten hieße ja, den Feind zu stärken. Dein Bruder war überzeugt, wir hätten bereits die ganze Beale-Chiffre entziffert. Damit bestand für ihn kein Grund mehr, den Bauern länger im Spiel zu behalten.«
    »Du meinst, Zircon war nur eine… Schachfigur, die von jemand anderem über das große Brett geschoben wurde?«
    Tim nickte. »Denk an seine letzten Worte. Ich fürchte, auch dein Stiefbruder war bestenfalls ein Springer. Ich frage mich nur, welche Rolle mir in diesem Spiel zugedacht wurde.«
    »Das liegt doch auf der Hand: Du wirst die Beale-Chiffre entziffern und diesem ganzen Spuk ein Ende machen.«
    »Tatsächlich? Oder fangen die Probleme für mich dann erst richtig an?« Er versuchte in Jamilas Mienenspiel zu lesen, doch abgesehen von einem unwilligen Stirnrunzeln sah er nichts.
    »Mir ist nicht klar, worauf du hinauswillst, Tim. Ich jedenfalls stehe auf der Seite der Guten.«
    »Bist du dir da ganz sicher?«
    Sie zögerte. Und dann wich sie ihm wieder einmal aus. »Hat Azam auf dem Dach irgendeine Äußerung gemacht, die auf seine Absichten schließen lässt?«
    »Frag das doch seine Männer«, erwiderte Tim schnippisch.
    »Das kann ich nicht.«
    »Ach, und wieso nicht?«
    »Weil deine Theorie über die Bauernopfer zu stimmen scheint.« Sie schob ihm ihre Telefonnotizen unter die Nase.
    Die letzte Zeile war für Tim ein Schock.
    Untersuchungshäftlinge tot. Selbstmord?

    Nachdem Tim das Bibliotheksbüro verlassen hatte, griff Jamila zum Handy und stellte eine sichere Verbindung zu ihrem Vorgesetzten her. In der nachrichtendienstlichen Kommunikation galten strenge Vorschriften. Dazu gehörte auch, Dr. Emil W. Kogan mit seinem Decknamen anzureden.
    »Ich bin’s noch einmal, Owl.« Sie vermutete, ihr Mentor hatte sich »Eule« genannt, um seine Weisheit herauszustreichen. Er glänzte gerne mit seinem profunden Wissen aus der Praxis. Manchmal führte er sich wie der
    »Gottvater« der Geheimdienste auf. Trotzdem wusste Jamila nur wenig über seine Vergangenheit im aktiven Dienst. In ihrer Highschool-Zeit war Azam eines Tages mit dem Doktor im Schlepptau aufgetaucht, und seitdem hatte Kogan ihr Leben begleitet wie ein hilfreicher Patenonkel. Ihre Karriere wäre ohne ihn wohl anders, vielleicht sogar weniger glanzvoll verlaufen, sowohl in Yale wie auch bei der NSA. Obwohl sie ihren Mentor bewunderte, zog sie ihn des Öfteren mit seiner neunmalklugen Art auf. Aber nicht an diesem Tag, kaum sechzehn Stunden, nachdem sie Azam getötet hatte.
    »Geht es dir etwas besser, kleine Morgiane?«, fragte Kogan, wobei er ebenfalls ihren nom de guerre benutzte.
    »Er war ein brutaler Killer. Die kleine Morgiane kommt darüber hinweg«, erwiderte sie widerborstig. Ihr Tarnname stammte aus »Ali Baba und die vierzig Räuber«, aus Tausendundeiner Nacht. Sie hatte ihn nie besonders gemocht, weil es in dem Märchen hieß: »Diese Morgiane war eine

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