Der Mann, der nichts vergessen konnte
Tage alte November seinem Ruf als Sauwettermonat alle Ehre machte.
Nur im Mantel trotzte Tim Wind und Nieselregen.
Vierhundertsiebenundsiebzig Schritte später saß er an einem anderen Frühstückstisch in einem anderen Haus neben einer sehr stillen Jamila Jason.
Tatsächlich vergingen exakt zwölf Minuten, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. In dieser Zeit sammelte Tim Sinneseindrücke: Aussehen und Geruch seiner stumm vor sich hinbrütenden, ebenso schönen wie schwermütigen Lebensretterin, Klang und Formen der mit sonorem Ton tickenden Standuhr zwischen den Fenstern, die filigranen Linien der sechsunddreißig auf den altertümlichen Möbeln verteilten Kristallfigürchen und Bilder von all dem anderen Tand, mit dem die betagte Mrs O’Connor – Jamilas Gastgeberin – ihr Heim verschönerte.
»Wie hast du mich gestern gefunden?«, fragte Tim schließlich.
Jamila wandte ihm ihr Gesicht zu. Ihre Augen schimmerten feucht. »Vermutlich genauso, wie Azam dich zum Turm gelockt hat. Ich habe die Zeichen gedeutet: Läufer und Turm – besonders spitzfindig war das nicht.«
Das stimmte allerdings. Eine Falle erfüllte nur ihren Zweck, wenn das Beutetier sie verstand. »Wie kommt es, dass ihr zwei so verschieden seid?«
»Azam und ich? Er ist nicht mein richtiger Bruder.«
Ihre Antwort verwirrte Tim. »Aber du hast gestern doch gesagt…«
»Ich habe gesagt, mein Leben sei kompliziert verlaufen«, unterbrach sie ihn müde. Sie schloss die Augen, als müsse sie zunächst Kraft sammeln, um einen Gordischen Knoten durchzuschlagen. Ehe sie ihn wieder ansah, begann sie schon weiterzureden.
»Ich wurde am 3. Oktober 1978 in Islamabad geboren. Meine Mutter, Lida, ist gebürtige Afghanin, ebenso wie es ihr wesentlich älterer Mann war. Aman hatte als Witwer zum zweiten Mal geheiratet. Aus seiner ersten Ehe stammt Azam, den ich gestern Abend…« Ihre Stimme versagte.
»Wir können ein andermal darüber reden«, sagte Tim leise.
Sie schüttelte trotzig den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus den Augen. »Wenn nicht jetzt, wann dann? Du hältst mich für ein Ungeheuer. Vielleicht bin ich das auch – wer mir zu nahe kommt, der stirbt.«
»Red dir so was nicht ein, Jamila. So weh dir dies auch tun mag, aber es war Azam Zardah, der andere Menschen gequält und getötet hat. Seinen Tod hat er sich selbst zuzuschreiben.«
Sie sah ihn entgeistert an. »Woher kennst du den Familiennamen meines Bruders? Ich bin mir sicher, ihn nicht erwähnt zu haben.«
»Ich auch. Aber das berichte ich dir später. Du wolltest mir von dir und deiner Familie erzählen.«
Einen Moment lang sah Jamila ihn durchdringend an, so als wolle sie ihm seine Gedanken entreißen, aber dann kehrte der erschöpfte Ausdruck in ihr Gesicht zurück. »Meine Mutter war in Islamabad als Dolmetscherin angestellt. Meistens arbeitete sie mit dem Botschaftssekretär, Tom Frederic Jason, zusammen…«
»… und verliebte sich in ihn«, erriet Tim.
Jamila nickte schwach. »Bitte lass mich einfach ausreden.
Was ich dir hier erzähle, wussten nicht einmal Azam und sein Vater. Meine Mutter hatte ein Verhältnis mit Tom. Ich bin das Kind dieser verbotenen Liebe. Dafür hätte Mom nach der Scharia, dem islamischen Gesetz, den Tod verdient. Als sie schwanger wurde, wollte sie sich das Leben nehmen. Doch sie wollte, dass wenigstens ich lebe und zögerte ihr Vorhaben hinaus. Dann kam ich zur Welt, als Tochter von Aman und Schwester von Azam Zardah. Man sah dem Neugeborenen nicht unbedingt an, dass zur Hälfte amerikanisches Blut in seinen Adern floss, und daher verschob Lida ihren tödlichen Plan abermals. Irgendwann sollen Aman doch Zweifel gekommen sein, ob er der leibliche Vater des Mädchens ist, aber bevor er gegen die Ehebrecherin vorgehen konnte, starb er an einem Hirnschlag.«
»Und du heißt Jason, weil Tom deine Mutter geheiratet und dich adoptiert hat?«
»Ja. Mit sechs kam ich in die Vereinigten Staaten. An das frühere Leben in Pakistan kann ich mich, abgesehen von ein paar besonderen Ereignissen, nicht mehr erinnern. Aber meine Mutter hat mir Afghanisch beigebracht und mich im Islam erzogen. Mit vierzehn bin ich dann zum Christentum konvertiert, wenigstens auf dem Papier. In meiner Kindheit hat uns Azam oft wochenlang besucht. Er ist siebzehn Jahre älter als ich… gewesen. Immer wenn er sich bei uns in Fairfield aufhielt, hat er sich aufgeführt, als sei Interpol hinter ihm her.
Damals hielt ich seine Heimlichtuerei nur für
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