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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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zum Gebäude werden von unseren Men in Black bewacht.
    Überdies bleibt ein Agent ständig in Ihrer Nähe«, erklärte das Eichhörnchen ernst und grinste plötzlich. »Dient alles zur Abschreckung der bösen Buben, damit Sie uns nicht gestohlen werden.«
    Tim hatte einst mit Vergnügen die Schachnovelle von Stefan Zweig gelesen, knapp zehn Minuten lang. Darin war ein Mann, ein gewisser »Dr. B«, beschrieben, der das Martyrium der Isolationshaft überstand, indem er nur in Gedanken gegen sich selbst Schach spielte. Fast hätte er darüber den Verstand verloren. Eine Stelle aus dem Büchlein drängte sich Tim immer wieder in den Sinn:

    »Man tat uns nichts – man stellte uns nur in das vollkommene Nichts, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts.«

    Irgendwie fühlte sich Tim wie Dr. B. Vielleicht sah er alles auch nur zu schwarz. Immerhin war er hier drinnen einigermaßen sicher vor schießwütigen Terroristen, und auch die Folter der Beschäftigungslosigkeit würde ihm gewiss erspart bleiben. Gleichwohl hatte man ihn wie die bedauernswerte Kreatur in der Novelle in ein nobles Gefängnis gesperrt. Ganz allein. Tim machte sich darüber keine Illusionen. Sein »Reich« war ein goldener Käfig, dekoriert als opulentes Arbeitszimmer des späten 19. Jahrhunderts, aber trotzdem blieb es ein Karzer. Hinaus kam man nämlich nur mit der richtigen Kombination.
    Es war ihm erst aufgefallen, nachdem Knight die Haupttür von außen geschlossen hatte.
    Das einhundertelf Jahre alte Gebäude verdankte der NSA offenbar einige kleine »Modernisierungen«. Möglicherweise gehörte dazu das Zahlenschloss draußen, ganz sicher aber das Zahlenschloss drinnen – so hirnverbrannt konnte sonst niemand sein. Nur wer die richtige Kombination kannte, kam wieder hinaus. Eine zweite Tür gleich links neben der ersten war ganz verriegelt, ebenso die alarmgesicherten Fenster. Zum Trost hatte Squirrel ihm ein rotes Handy in die Hand gedrückt und süffisant bemerkt: »Im Telefonverzeichnis stehen ein paar wichtige Nummern. Für den Notfall. Oder falls Sie das Labor mal anödet und Sie sich mit ein wenig Comedy ablenken wollen.«
    Das Labor – so hieß von Stund an das ehrwürdige Büro des Bibliothekars. Offenbar brauchten diese Geheimdienstler für alles und jeden einen Tarnnamen. Nicht in dem prächtigen runden Lesesaal, sondern in diesem wunderschönen Käfig würde er sich also auf unbestimmte Zeit mit Beales letztem Rätsel beschäftigen. Wenigstens hatte die Inhaftierung auch ihre angenehmen Seiten. Sie würden ihm jedes Buch bringen, nach dem ihm gelüstete.
    Übermüdet, verdrossen und mit brennenden Augen blickte er auf den Flachbildschirm, der auf einer Ecke des antiquierten Schreibtischs stand; Gegenwart und Vergangenheit der Arbeitswelt waren durch eine dünne Glasplatte getrennt – das Superhirn sollte schließlich keine Nationalschätze zerkratzen.
    Tim ging davon aus, dass er nur noch gefilterten Zugang zum Internet hatte. Vermutlich wurde jeder Seitenaufruf irgendwo in Crypto City protokolliert und kontrolliert. Was würde wohl passieren, wenn er spaßeshalber in einer Internetsuchmaschine die Stichworte »NSA« und »Owl« eintippte? Vermutlich käme gleich eine Antiterroreinheit durch die Tür gestürmt so wie auf dem Bibliotheksturm in Cambridge.
    »Wäre bestimmt lustig«, murmelte er und ließ den Blick über die gewölbte Decke schweifen. Ob diese Schnüffler den Raum verwanzt hatten? In der Ecke rechts über der Haupttür fiel ihm eine weitere Inschrift auf:

    LIBER DELECTATIO ANIMAE
    Bücher, die Freude der Seele

    Irgendwo schrie ein Uhu. Es war eine sternenklare Nacht. Die eisige Luft ließ Tim zittern. Er drehte sich einmal um seine eigene Achse. Um ihn herum ragten dunkle Monolithen auf.
    Dazwischen sah er im silbernen Mondlicht eine hügelige Landschaft. Wo war er?
    Stonehenge?, fragte er sich. Tatsächlich besaß der Ring, in dessen Zentrum er stand, eine gewisse Ähnlichkeit mit der megalithischen Anlage bei Salisbury – er hatte das uralte Monument im südenglischen County Wiltshire einmal besucht.
    Der gängigsten Theorie zufolge diente es der Himmelsbeobachtung. Er wandte den Blick nach oben.
    Über ihm funkelte es, als hätte jemand Brillanten über ein schwarzes Samttuch ausgeschüttet. Er sah die Sternbilder des Großen und Kleinen Wagens, das W der Kassiopeia und den Totenkopf…
    Tim stutzte. Über ihm glitzerte zweifellos ein aus Sternen

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