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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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gezeichneter Schädel mit zwei gekreuzten Knochen darunter.
    Irgendetwas war merkwürdig an diesem Ort.
    Sein Blick kehrte zu den Monolithen zurück, deren Silhouetten sich schwarz vor dem Firmament abhoben. Auch sie kamen ihm seltsam vor. Er verließ das Zentrum des Rings und lief zu dem größten Block, um ihn aus der Nähe zu betrachten.
    Die unregelmäßig geformte Säule war nicht aus Stein.
    Sie bestand aus Büchern. Im Land der Träume hieß dieser Ort vermutlich Bookhenge.

    Ja, er träumte. Diese Erkenntnis überraschte ihn nicht im Geringsten. Er hatte seinen Geist schon oft im Schlaf dabei ertappt, wie er die bizarrsten Landschaften und Situationen erschuf. Manchmal, wenn diese Fantasien unerträglich waren, versuchte er Morpheus’ Armen zu entkommen, aber bisher hatte er es nur selten geschafft.
    Wieder hallte aus der Dunkelheit der Ruf des Uhus an sein Ohr. Ahnungsvoll ließ er seinen Blick durch das große Rund aus Monolithen schweifen. Mit einem Mal kam er sich darin gefangen vor. Unwillkürlich machte er einen vorsichtigen Schritt, um sich an dem Riesen vorbeizuschleichen. Dann noch einen. Als er genau zwischen zwei Büchersäulen stand, hörte er ein flatterndes Geräusch. Unwillkürlich dachte er an den Uhu, doch als er nach oben sah, bemerkte er – fast zu spät – seinen Irrtum.
    Die zwei Riesen hatten Bücher auf ihn hinabgeworfen.
    Mit einem großen Satz sprang er in den Kreis zurück, gerade rechtzeitig, um nicht von den großen Folianten erschlagen zu werden. Schnell rappelte er sich wieder hoch und lief zu einer anderen Lücke. Diesmal war er vorgewarnt. Kaum hatte er seinen Fuß auf die unsichtbare Linie des Bücherkreises gesetzt, stürzten schon neue Wälzer auf ihn herab.
    Absurderweise wurden die papiernen Türme dadurch nicht kleiner. Es hatte also gar keinen Sinn, darauf zu spekulieren, dass dem Gegner die Munition ausging. Im Gegenteil häufte jeder Fluchtversuch zwischen den Monolithen einen Wall auf, der Tim den Blick auf die nächtliche Landschaft draußen verwehrte. Grimmig starrte er zum Mond empor, auf den Lippen eine gepfefferte Beschwerde. Ehe er jedoch dazu anheben konnte, hatte es ihm auch schon die Sprache verschlagen. Der sprichwörtliche Mann im Mond war eine Frau.
    Sie hatte Jamilas Gesicht.

    Tim!, rief sie. Ihre Stimme klang fern. Immerhin kam sie aus mindestens 356 410 Kilometern Entfernung, rief sich Tim in Erinnerung.
    Ti – im!! wiederholte die Frau im Mond, ihren Ruf nachdrücklich in die Länge ziehend.
    »Tim, jetzt wach endlich auf, du Faulpelz. Es ist fünf nach neun, und wir haben jede Menge Arbeit.«
    Er schlug die Augen auf. »Jamila?« Für einen Moment war er völlig orientierungslos.
    Sie schenkte ihm ein hübsches Lächeln. »Wen hast du erwartet? Die Frau im Mond?«
    Verwirrt richtete er sich zum Sitzen auf. Der Anblick von Holzpaneelen und der leicht muffige Geruch alter Bücher brachten ihn endgültig in die Wirklichkeit zurück. Er gähnte.
    »Die Nacht war grauenvoll. Ich habe nur zwei Stunden und sechsundfünfzig Minuten geschlafen.«
    »Na, wenigstens ist dein Humor schon wieder ganz fit.«
    »Das war ernst gemeint.«
    Sie runzelte die Stirn. »Jetzt versuche mir bitte nicht weiszumachen, du könntest im Schlaf die Sekunden zählen.«
    »Nein. Aber höre doch mal hin!« Er hob die Augenbrauen und lauschte demonstrativ.
    Jamila spitzte die Ohren, aber mit wenig Geduld. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Tim.«
    »Na, von dem Hahn im Bad, der zweiundfünzigmal in der Minute tropft. Ich kann nichts dafür, aber in meinem Kopf ist so eine Art Wasseruhr eingebaut, die genau mitzählt. Seit ich mich sieben Minuten nach zwei ins Bett gelegt habe, hat es 12584-mal plopp! gemacht. Ergo bin ich um sechs Uhr neun eingeschlafen. Nach eigenem Bekunden hast du mich um fünf nach neun geweckt. Somit habe ich exakt zwei Stunden…«

    Sie stöhnte. »Du nervst, Tim! Tu doch einfach mal so, als würdest du nicht alles im Kopf protokollieren. Damit gewinnt man keine Freunde.«
    Ihre Worte bohrten sich wie ein Florett tief in seine Seele.
    Konnte sie ihm deutlicher sagen, was sie für ihn empfand? Er war immer noch der Wellensittich, den sie mochte, gefangen in einem goldenen Käfig. Doch seiner kasernierten Lage zollte sie nicht das geringste Fünkchen Mitgefühl. Verdrießlich brummte er: »Hätte ja auch der Springer sein können, der mich weckt. Auf dessen Freundschaft lege ich keinen gesteigerten Wert.«
    »Knight hat Freischicht. Momentan

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