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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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der Beleibte ihm ungeduldig ins Wort.
    Unverdrossen stellte Squirrel dem Team nun auch Dr. Ainsworth Lessing vor, den Leiter der »Abteilung für seltene Bücher & spezielle Sammlungen«. »Er ist quasi der Verbindungsoffizier des Bibliothekars zur NSA. Wenn ihr eine bibliothekseigene Tasse runterschmeißt, sagt ihm Bescheid. Er regelt das für uns.«

    »Nun kommen Sie endlich rein, damit Ihre Armee abrücken kann«, drängte Lessing die Besucher. Die flapsige Art des jungen Hackers schien ihm gegen den Strich zu gehen.
    Nachdem das Glas-Bronze-Schott wieder verschlossen und die Leibgarde damit ausgesperrt war, führte der Bibliothekar die Gruppe ins Vestibül, welches er bescheiden die »Große Halle« nannte. Das Entree zur Bibliothek war eine dreiundzwanzig Meter hohe Orgie aus weißem italienischem Marmor, Stuck und Blattgold. Direkt gegenüber den Bronzetüren führten weitere Rundbögen in den berühmten runden Hauptlesesaal, der sich unter dem Kuppeldach befand.
    Lessing deutete in der Manier eines Fremdenführers einen nordöstlichen Kurs an und sagte: »Zu unserer Linken befindet sich das Büro des Bibliothekars.« Zielstrebig steuerte er das so benannte Ziel an.
    Tim wunderte sich. The Librarians Office war, wie er von einer früheren Führung durch das Gebäude wusste, keineswegs mehr das normale Arbeitszimmer des Bibliotheksleiters – der hatte sich schon vor über einem Vierteljahrhundert im Madison Building, einem anderen Gebäude der Kongressbibliothek, eingerichtet –, vielmehr handelte es sich dabei um eine nur noch für zeremonielle Zwecke genutzte Zimmerflucht.
    Normale Besucher der Institution wurden entweder gar nicht oder nur auf Antrag eingelassen.
    Auf dem Weg durch die Vorhalle herrschte andächtiges Schweigen. Die überbordende, monumentale Pracht des Gebäudes zeigte offenbar selbst bei so schnoddrigen Charakteren wie Squirrel Wirkung. Tim saugte die vielen Eindrücke wie ein trockener Schwamm in sich auf, um sie für immer in seinem Innern zu bewahren – die Ornamente und Malereien, die Putti und Minervafiguren und immer wieder die allgegenwärtigen Zitate großer Künstler und Denker.

    »Das ist der Ostkorridor«, erklärte Lessing nach dem Durchschreiten des linken Bogens, deutete auf eine stabil aussehende Tür aus braunem Metall und fügte auf Deutsch hinzu: »Und hier ist für die nächste Zeit Ihr Reich, Herr Labin.«
    »Mein Reich?«, wiederholte Tim verwirrt.
    Lessings Miene erstarrte, als wolle er sich in die Stuckgalerie der benachbarten Halle einreihen. »Ich hatte vorgeschlagen, Sie im Rosenwald Room einzuquartieren, aber der Herr, dem wir diesen Frevel hier zu verdanken haben, hielt das für keine so gute Idee.«
    »Wegen des Namens?«, fragte Tim und kam sich, kaum hatte er die Worte ausgesprochen, ziemlich einfältig vor. Dieser wegen der zweckfremden Beschlagnahme eines Nationaldenkmals – zu Recht – erzürnte Mann wusste vermutlich nicht einmal, dass er seinen Ärger an einem geborenen Rosenholz ausließ.
    Der Abteilungsleiter schüttelte den Kopf. »Sind Sie Metaphysiker oder was? Der Name hat nicht das Geringste damit zu tun. Die Entscheidung wurde aus viel pragmatischeren Gründen getroffen.« Er deutete auf ein Kästchen mit Zifferntastatur neben der Tür. »Der Raum ist mit einem Zahlenschloss gesichert, und auch sein Innenleben hat einige Vorzüge, die Sie schnell schätzen lernen werden.
    Könnte vielleicht einer der Herren endlich öffnen?«
    Knight war sofort zur Stelle und tippte mit seinen dicken Fingern ein paarmal auf die Tastatur.
    Ein Summton erscholl, und die Tür sprang auf.
    Lessing deutete hindurch. »Gehen Sie ruhig, damit ich endlich nach Hause ins Bett komme. Hier habe ich ja sowieso nichts mehr zu sagen.«
    Rasch betrat die Gruppe den zukünftigen Wirkungsbereich des »Superhirns«. Der deutschstämmige Bibliothekar folgte als Letzter und schlüpfte flugs in die Rolle eines Hotelpagen. Im Eiltempo machte er die Gäste mit den Vorzügen der Suite vertraut – und das war sie tatsächlich: eine richtige Suite.
    »Hier haben wir das große Büro, von wo aus bis 1980 der Bibliothekar die Geschicke der Nationalbibliothek gelenkt hat«, erklärte Lessing mit sichtlichem Stolz.
    Tatsächlich konnte man in dem holzgetäfelten Raum erahnen, welch hohen gesellschaftlichen Stellenwert der Bibliotheksleiter schon im vorletzten Jahrhundert genossen hatte. Neben dessen eigentlichem – ein Sakrileg: computerbestückten – Arbeitsplatz, der mit seinen

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