Der Mann, der niemals lebte
und zwei Gläser in der Hand.
»Mach schon auf, du Hurensohn«, brummte er. »Wir müssen reden.« Er war ziemlich betrunken, und offensichtlich dämpfte der Alkohol seinen üblichen Überschwang, denn er wirkte fast ein wenig melancholisch. Nachdem er sich Ferris gegenüber an den Schreibtisch gesetzt hatte, goss er die beiden Gläser voll. Nur noch eine Minute bis Neujahr – Ferris wartete darauf, dass sein Boss irgendeinen polternden, gut gelaunten Trinkspruch ausbringen würde, aber Hoffman blieb stumm. Schließlich ergriff Ferris selbst das Wort.
»Wir haben es geschafft«, sagte er und hob sein Glas. »Ich hatte es fast nicht für möglich gehalten, aber wir haben es tatsächlich hingekriegt. Wir sind in deren System eingedrungen.«
»Ja. Kann schon sein«, erwiderte Hoffman missmutig.
»Da gibt es kein mehr. Nicht, nachdem die NSA diesen Anruf von Süleyman abgefangen hat. Dem steht das Wasser bis zum Hals, sonst wäre er doch niemals aufgetaucht. Wir haben in den letzten Tagen so viele neue Hinweise bekommen, dass wir alle Netzwerke zwischen London und Lahore ausheben können.«
Hoffman saß einfach da und schüttelte den Kopf. Das konnte nicht nur vom Alkohol kommen. Irgendetwas belastete ihn. Aber Ferris hatte keine Lust, sich mit Hoffmans Problemen zu befassen – er wollte über seine eigenen nachdenken.
»Kopf hoch, Boss. Trinken Sie mit mir auf unseren Sieg.«
»Noch haben wir nicht gewonnen.«
»Aber wir sind ein gewaltiges Stück näher dran als noch vor einer Woche. Los, runter damit.« Er stieß mit Hoffman an und leerte das Glas in einem Zug. Doch der ältere Mann trank nicht.
»Das geht mir alles viel zu glatt«, sagte Hoffman. »Irgendwas ist da faul.«
»Was reden Sie denn da? Verdammt noch mal, warum können Sie denn nicht akzeptieren, dass es geklappt hat? Wie, weiß der Himmel, aber wir haben es geschafft.« Ferris wollte nichts von Selbstzweifeln und offenen Fragen hören. Er hatte seinen Teil der Operation erledigt, jetzt wollte er nur noch an sein neues Leben denken. Hoffman sollte einfach Ruhe geben und ihn endlich seiner eigenen Zukunft überlassen.
»Irgendwas stimmt da nicht. Süleyman hätte einfach nicht so schnell auftauchen dürfen. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Kommt mir fast so vor, als würde er uns auf die Probe stellen, als wollte er herausfinden, was für ein Spiel wir mit ihm spielen.«
»Kommen Sie, Ed, jetzt werden Sie mal nicht paranoid. Sie haben sich viel zu lange mit dieser Sache beschäftigt, und jetzt leiden Sie unter postnatalen Depressionen. Hören Sie endlich auf, sich Sorgen zu machen, das Baby ist kerngesund, wenn auch ein wenig abnormal.«
»Glauben Sie? Und warum hat Süleyman dann sein Handy in dieser Wohnung liegen lassen? Und wem hat er diese Geschichte vom Martyrium des Hussein erzählt? Die ganze Sache ist total nebulös, und wir haben immer noch nichts Konkretes in der Hand. Das macht mich richtig wahnsinnig.«
Ferris lachte und schenkte sich noch ein Glas Champagner ein. Er war müde, und wenn er ehrlich war, interessierten ihn Hoffmans Sorgen kein bisschen. Er beugte sich so nah an seinen Chef heran, dass er dessen kratzige Bartstoppeln spüren und seinen alkoholgeschwängerten Atem riechen konnte, und küsste ihn auf beide Wangen. Draußen vor der Bürotür johlten und tanzten die Leute und skandierten den Namen ihres Vorgesetzten: »Hoff-man! Hoff-man!« Es war kurz vor Mitternacht. Sie zählten schon die Sekunden. Und sie wollten ihren Boss dabeihaben.
Hoffman trat aus dem kleinen Büro nach draußen. Er war ein viel zu eingefleischter Anführer, um sich einen solchen Moment entgehen zu lassen. Grinsend kletterte er auf einen Tisch, hob die Champagnerflasche hoch über den Kopf und brüllte: »Ein gutes neues Jahr euch allen! Und danke für die tolle Arbeit – davon wartet im neuen Jahr noch sehr viel mehr auf euch. Ich liebe euch alle!« Dann schlug es zwölf. Perfektes Timing, wie immer. Die Menge johlte, alle waren betrunken, erschöpft und glücklich. Sie sangen, und unter der Führung einer üppigen Frau, die normalerweise irakischen Terrorzellen hinterherspürte, formierte sich eine Polonaise. Inmitten des ganzen Rummels war Ferris vermutlich der Einzige, der mitbekam, dass Hoffman sich wieder in ein leeres Büro verzog und die Tür hinter sich zumachte.
Omar Sadiki verschwand am Neujahrstag. Ferris erhielt die Nachricht auf dem Weg zum Flughafen, kurz bevor er zurück nach Amman fliegen wollte. Das
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