Der Mann, der niemals lebte
standen eine Müslipackung und ein offener Milchkarton neben einer halb leer gegessenen Schale Müsli. Ferris roch an der Schale und stellte fest, dass die Milch darin noch nicht sauer war.
Durch den Korridor gelangte er in das kleine Zimmer, das sich Alice als Büro eingerichtet hatte. Hier standen die Schubladen ihres Schreibtisches offen, und auf der Tischplatte lagen ein paar Aktenordner verstreut. Ihr Laptop fehlte. Als Ferris klar wurde, was das zu bedeuten hatte – dass jemand in Alices Wohnung gewesen war und ihren Computer mit allen Dateien mitgenommen hatte –, setzte die Angst ein. Aber vielleicht war es ja auch nur ein Einbruch, vielleicht hatte Alice ihr halb gegessenes Frühstück einfach stehen lassen, weil sie in Eile gewesen war, und danach hatte sich ein Dieb in die Wohnung geschlichen?
Ferris ging zurück in die Küche und rief von dem Telefon dort Alices Nummer in der Arbeit an. Es klingelte und klingelte am anderen Ende.
Erst als er den Hörer wieder auflegte, bemerkte er die Blutflecken am Boden direkt vor der Arbeitsfläche. Der Aufschrei blieb ihm fast im Hals stecken. Er folgte der Spur der Blutstropfen, die aus der Küche in den Gang und dort bis zur Wohnungstür führte. Großer Gott. Wo war sie bloß? Nur mit Mühe konnte er sich daran hindern, laut loszubrüllen. Seine schlimmsten Befürchtungen waren mit einem Mal Wirklichkeit geworden. Ferris setzte sich auf die Couch und zwang sich zum Nachdenken. Keine Panik, sagte er sich. Erst einmal muss du sicher sein, dass sie wirklich entführt worden ist. Er rief die Zentrale des Hilfswerks für Nahost-Unterstützung an und fragte nach Hoda, einer Palästinenserin, die dort eng mit Alice zusammenarbeitete. Auch sie klang sehr beunruhigt. Alice sei heute nicht zur Arbeit erschienen, sagte sie, und alle im Büro machten sich Sorgen um sie, weil das normalerweise nicht ihre Art sei. Aber vielleicht sei sie ja bei ihrem amerikanischen Freund.
»Ich bin ihr amerikanischer Freund«, sagte Ferris, der nur mit Mühe seine Stimme kontrollieren konnte. Er sagte Hoda, sie solle auf keinen Fall die Polizei oder sonst jemanden verständigen, bevor er sie zurückgerufen hatte, und legte auf. Er musste nachdenken.
Wie ein Mühlstein lastete die Verantwortung auf ihm. Er hatte das alles zugelassen. Alice war entführt worden. Jemand war in ihre Wohnung eingedrungen und hatte sie verschleppt. Ferris versuchte, vernünftig zu denken. Sollte er den Sicherheitsbeamten der Botschaft anrufen, damit dieser die jordanische Polizei verständigte? Das wäre für einen Amerikaner im Ausland eigentlich die normale Vorgehensweise in so einem Fall. Oder sollte er seinen Stellvertreter anrufen und ihm sagen, er solle mit dem FBI-Mann der Botschaft in die Wohnung kommen und die Spuren sichern, bevor die Jordanier hier aufkreuzten? Sollte er sich an Hani wenden und ihn um einen persönlichen Gefallen bitten? Schließlich tat er alle drei Dinge auf einmal. Seine Tarnung war ihm inzwischen egal, die Sorge darum war zusammen mit Alice verschwunden. Jetzt konnte er nur noch einen Fehler machen: nicht genügend dafür zu tun, dass Alice gerettet wurde.
Das Team von der Botschaft: war als erstes da. Der FBI-Agent durchsuchte rasch die Wohnung, nahm Proben von den Blutspuren am Boden und untersuchte die Küche, wo der Angriff offenbar begonnen hatte, auf Fingerabdrücke. Ferris saß währenddessen auf der Couch und stützte den Kopf in die Hände. Sein Stellvertreter setzte sich neben ihn. Er war älter als Ferris und hatte sich in der Vergangenheit manchmal ein wenig bärbeißig verhalten, aber jetzt war er die Hilfsbereitschaft selbst.
»Die Frau ist Ihre Freundin, oder? Sagen Sie mir, was ich tun kann, und ich tue es, Regeln hin oder her.«
»Ich weiß nicht«, sagte Ferris. »Ich habe Angst, dass etwas wirklich Schlimmes passiert ist.«
»Können Sie darüber reden?«
»Jetzt nicht. Es ist zu kompliziert, und es gibt viel zu viel, was Sie nicht wissen. Aber ich glaube, dass Alice Melville entfuhrt worden ist.«
»Hoffman möchte mit Ihnen reden. Ich habe ihn gleich nach Ihrem Anruf verständigt, und jetzt will er, dass Sie so schnell wie möglich über eine sichere Leitung mit ihm Kontakt aufnehmen.«
Ferris schüttelte den Kopf. »Später. Ich muss erst nachdenken.«
»Ist ja auch egal. Er wird so oder so sauer sein.« Der Stellvertreter legte Ferris die Hand auf die Schulter und schien noch mehr sagen zu wollen, ließ es dann aber sein. Ferris hatte recht. Es
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