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Der Mann, der niemals lebte

Titel: Der Mann, der niemals lebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ignatius David
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Kaffeehäusern rauchten alte Männer ihre Shishas, die Straßenhändler verkauften frische Sesamkringel und Baklava an Leute, die mitten in der Nacht noch Lust auf etwas zu essen hatten. In den steinernen Wohnhäusern, die die schmalen Straßen der Flüchtlingslager säumten, sah man durch die Fenster den flackernden, bläulichen Widerschein der Fernsehgeräte, jedes versehen mit seiner eigenen Satellitenschüssel. So blieben die Menschen dort in Verbindung mit einer modernen Welt, die sie zugleich anzog und abstieß. Als sie das Stadtzentrum durchquerten, waren auch dort noch Passanten unterwegs. Die meisten Frauen waren züchtig mit Kopftuch und sackartigen Gewändern bekleidet, aber einige liefen trotz der kalten Winternacht in geradezu aufreizend tief ausgeschnittenen Oberteilen durch die Straßen. Als ein paar von ihnen durch das Taxifenster auffordernd Ferris’ Blick suchten, fragte er sich, ob das vielleicht Prostituierte waren. Aus muslimischer Sicht, so viel wusste er, war es egal, ob sie sich nun für ihre Dienste bezahlen ließen oder nicht. Sie waren so oder so längst durch westliche Sitten verdorben.
    Als sie Damaskus hinter sich gelassen hatten, nickte Ferris für ein paar Minuten ein, schreckte aber schon bald wieder hoch, weil er im Traum Alice gesehen hatte, die gefesselt und blutverschmiert in einem dunklen Kellerloch lag. Dieses Bild ließ ihn für den Rest der Fahrt nicht mehr los. Schließlich hielten sie bei einem Restaurant südlich von Horns, um dort etwas zu essen und einen Tee zu trinken. Der Taxifahrer, der das Lokal kannte, hatte behauptet, es sei ein sauberer Ort, doch als Ferris auf die Toilette ging, fand er dort nur ein Loch im Boden vor, aus dem es nach Fäkalien roch. Inzwischen war es fast drei Uhr morgens. Die nächste große Stadt nach Horns in nördlicher Richtung war ihr Zielort, Hama. Ferris sagte dem Fahrer, dass er sich gern bis halb sieben auf dem Parkplatz des Restaurants ausruhen würde. Er wollte nicht zu früh in Hama ankommen und dort weithin sichtbar auf seine Verabredung warten müssen. Auf dem Parkplatz standen noch ein paar weitere Autos. Ferris fragte sich, ob eines davon wohl Hanis Leuten gehörte. Dann fiel er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er schon beim ersten Tageslicht wieder erwachte. Im Osten schob sich die Sonne orangerot hinter der kargen Landschaft hervor und tauchte den Himmel in ein Farbenmeer von Rosarot bis Hellgelb. Ferris fragte sich, ob er wohl noch einen weiteren Sonnenaufgang erleben würde.
     
    Als sie gegen halb acht in der Innenstadt von Hama ankamen, waren sie immer noch zu früh dran. Ferris sagte dem Fahrer, er solle bis in die nördlichen Vororte fahren und dann wieder umdrehen. Auf der Fahrt sah er, dass viele Häuser am Straßenrand rauchgeschwärzte Ruinen waren, und ihm wurde klar, dass dies wohl eines der Viertel sein musste, die Hafiz al-Assads Panzer fast drei Jahrzehnte zuvor durch gezieltes Feuer aus nächster Nähe zerstört hatten. Die Muslimbrüder, die in diesen Häusern gewohnt hatten, waren in die Höhlen und Tunnel der Altstadt nahe am Fluss geflüchtet, dann aber auch von dort mit Flammenwerfern, Gas und Gewehrfeuer vertrieben worden. Das war sie, die Welt, die Süleyman hervorgebracht hatte. Der Hass, den syrische Militärs hier vor zwei Jahrzehnten gesät hatten, war aufgegangen und konzentrierte sich inzwischen auf Amerika – und an diesem heutigen Tag vor allem auf Roger Ferris.
    Der Fahrer parkte sein Taxi an einer Bushaltestelle in der Nähe des Flusses Orontes. Ferris blieb im Wagen sitzen und hielt nach Alice Ausschau. Es war fast acht Uhr. Er sagte dem Fahrer, er werde einen Spaziergang machen, und falls er in zwei Stunden noch nicht wieder zurück sei, solle der Fahrer ohne ihn nach Jordanien zurückkehren. Dann gab er ihm zweihundert Dinar, wohl wissend, dass das viel zu viel war. Aber was sollte er noch mit dem Geld, wenn er tot war? Ferris stieg aus dem Wagen und ging auf die uralten Holzräder zu, mit denen das Wasser aus dem Fluss in die Viadukte der Stadt geschöpft wurde. Er sah sich um und fragte sich, wo Hanis Leute wohl sein mochten, falls sie überhaupt hier waren. Wahrscheinlich war es besser, sich nicht allzu suchend umzuschauen. Ferris senkte den Kopf und schlug den Kragen seiner Jacke hoch, um die Kälte abzuhalten. Sein verletztes Bein war immer noch steif von der langen, unbequemen Fahrt, und er humpelte stärker als sonst.
    Es war ein wolkenloser Tag. Das helle Blau des Winterhimmels

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