Der Mann, der niemals lebte
ging am Horizont in ein tiefes, dunkles Blau über. Ferris setzte sich auf eine Bank am Ufer des Orontes, ganz in der Nähe des größten Holzrades. Im träge und friedlich dahinfließenden, schwärzlich-blauen Wasser des Flusses spiegelten sich die alte Al-Nuri-Moschee und die anderen steinernen Gebäude, die das Ufer säumten. Die Holzräder glänzten golden in den hellen Strahlen der Morgensonne. Ferris wartete zehn Minuten, dann eine Viertelstunde, während sein Blick immer wieder das Ufer entlangwanderte. Auf beiden Seiten des Flusses befanden sich mehr als ein Dutzend dieser Holzräder, und er wusste nicht, bei welchem Alice sein würde. Einmal stand er auf, drehte eine Runde und kehrte dann wieder zu seiner Bank zurück. Er hatte das Gefühl, dass man ihn beobachtete, aber wie sollte er unter den Straßenverkäufern und Schwarzmarkthändlern die Abgesandten des Feindes erkennen?
Als er gerade wieder in die Morgensonne blinzelte, bemerkte er ein Grüppchen Araber, die sich den norias von Westen her näherten. Sie hatten eine Frau bei sich. Sie trug ein langes, schwarzes Gewand und ein Kopftuch, doch etwas in ihrem Gang ließ Ferris genauer hinsehen. Er erhob sich und ging auf die Gruppe zu, die noch ein ganzes Stück von ihm entfernt war. Die Männer blieben stehen und traten auseinander. Einer von ihnen sagte etwas zu der Frau, die daraufhin ihr Kopftuch abstreifte. Der Mann gab ihr einen kleinen Schubs, dann eilte er mit den anderen davon, und die Frau blieb allein am Flussufer zurück.
Ferris lief auf sie zu, um sie aus der Nähe sehen zu können. Er wollte ganz sicher sein, dass es auch wirklich Alice war. Und dann, in einem Augenblick, der die Zeit stillstehen ließ, erkannte er sie: das blonde Haar, den grazilen Körper, ihr schönes, ebenmäßiges Gesicht. Wenn sie gefoltert worden war, sah man es ihr nicht an, aber darüber wollte Ferris jetzt nicht nachdenken. Sie war frei, das allein zählte. Er rief ihren Namen, wollte zu ihr laufen, doch sein verletztes Bein gab unter ihm nach, er kam ins Stolpern und fiel hin. Alice hatte ihn immer noch nicht bemerkt, und durch den Wind und den Straßenlärm konnte sie ihn auch nicht hören, aber das spielte keine Rolle. Sie war frei.
Als Ferris sich wieder aufgerappelt hatte und weiterlaufen wollte, sah er drei gut gekleidete Araber, die rasch auf Alice zukamen. Sie waren sehr viel näher bei ihr als er, und Ferris hörte, wie einer sie beim Namen rief. Einen Augenblick lang bekam er es mit der Angst zu tun, doch dann erkannte er die Stimme des Mannes, und als er genauer hinsah, stellte er fest, dass es Hani war. Der Chef des jordanischen Geheimdienstes war über Nacht nach Norden gereist, um Alice persönlich in Empfang zu nehmen. Ferris rief noch einmal nach ihr, doch Hani hatte bereits den Arm um sie gelegt und führte sie zusammen mit seinen Männern zu einem Kleinbus, der ganz in der Nähe wartete. Alice wirkte erleichtert, sie hatte offenbar begriffen, dass man ihr helfen wollte. Ferris rief und versuchte, ihnen mit seinem lädierten Bein nachzurennen, doch da kam ein syrischer Polizist auf ihn zu, der ihn mit seiner Mütze und der zerschlissenen Wolljacke wohl für einen Syrer hielt. Ferris blieb stehen. Er rief noch einmal nach Alice, doch sie konnte ihn nicht hören. Hani öffnete die Tür des Kleinbusses, Alice kletterte auf den Rücksitz, zwei von Hanis Männern nahmen rechts und links von ihr Platz, und schließlich stieg auch Hani ein, und der Wagen fuhr davon.
Als der Kleinbus in raschem Tempo auf die Schnellstraße nach Damaskus zusteuerte, hörte Ferris auf, ihren Namen zu rufen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Das Unglaubliche war geschehen. Die Entführer hatten Wort gehalten. Und Hani war ebenfalls seinem Versprechen treu geblieben und hatte Alice in seine Obhut genommen. Nun musste Ferris seinen Teil der Abmachung erfüllen. Er dachte kurz darüber nach, einfach wegzulaufen, aber er wusste, dass Alice erst dann außer Gefahr war, wenn sie die Grenze nach Jordanien passiert hatte. Er musste sich einen Trick einfallen lassen, eine List, irgendetwas, womit er Zeit gewinnen konnte. Die Terroristen warteten auf seinen Anruf. Er zog das Handy aus der Tasche, steckte es aber gleich wieder zurück. Sollten sie doch warten. Er war erfüllt von einer dumpfen Zufriedenheit, denn er wusste: Egal, was noch kommen würde – Alice würde überleben.
Hama/Aleppo
Das Handy klingelte fünfmal, bevor Ferris das Gespräch annahm. Eine arabisch
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