Der Mann, der niemals lebte
sich ständig bei mir?, fragte sich Ferris. Er war doch ohnehin schon ein toter Mann.
Die Fahrt dauerte mehrere Stunden. Ferris wusste nicht, wie lang genau – die Augenbinde saß so eng, dass er nicht sehen konnte, ob es hell oder dunkel war –, aber er spürte, wie die Luft immer kühler wurde. Es musste langsam Nachmittag sein. Wahrscheinlich fuhren sie nach Norden, in Richtung Aleppo, oder nach Osten, auf die irakische Grenze zu. Irgendwann hielt der Wagen, und Ferris’ Entführer stiegen aus und ließen ihn zwischen den Autositzen liegen. Ein paar Minuten später kam jemand und öffnete eine der hinteren Türen. Hände griffen nach Ferris, zerrten ihn mit dem Kopf voran aus dem Auto und trugen ihn wie einen zusammengerollten Teppich eine kurze Treppe hoch und dann eine längere Treppe nach unten. Ferris vermutete, dass sie ihn in einen Keller brachten, und dachte: Hier geht es nun zu Ende mit mir.
Aber noch war es nicht so weit. Als sie unten angekommen waren, lösten die beiden Männer, die sich ständig gegenseitig kurze Verse aus dem Koran vorsagten, Ferris die Fesseln an Armen und Beinen und gaben ihm etwas zu trinken und zu essen, ohne ihm allerdings die Augenbinde abzunehmen. Dann führten sie ihn auf eine stinkende Toilette, bevor sie ihn wieder fesselten, ihn auf eine feuchte Matratze stießen und ihm sagten, er solle schlafen. Das tat Ferris, auch wenn er bei jedem Geräusch aus dem Stockwerk über ihm wieder hochschreckte.
Am nächsten Morgen wurde er wieder woandershin transportiert. Die Augenbinde hatte sich inzwischen durch den Schweiß ein wenig gelockert, er sah aber immer noch nicht viel. Es war keine lange Fahrt, höchstens eine halbe Stunde. Vermutlich brachten sie ihn von einem sicheren Haus in ein anderes, was darauf schließen ließ, dass sie sich in einer Stadt befanden – vielleicht in Aleppo? Sich im Irak zu verstecken wäre selbst für Leute wie seine Entführer zu riskant gewesen. In dem neuen Haus wiederholte sich die gleiche Prozedur: Sie trugen ihn eine Treppe hinunter, gaben ihm zu essen und zu trinken und gestatteten ihm, die Toilette zu benutzen. Diese stank nicht ganz so wie die erste und hatte sogar eine Klobrille. Als Ferris mit Gesten bedeutete, dass er seinen Darm entleeren müsse, setzten sie ihn darauf und warteten, bis er fertig war, um ihn anschließend wieder zu fesseln und auf einen Stuhl zu setzen. Kurze Zeit später hörte man oben mehrere Wagen vorfahren. Gedämpfte Stimmen hießen Neuankömmlinge willkommen und fingen schließlich an zu beten.
Als Ferris Schritte die Treppen herunterkommen hörte, krampfte sich ihm der Magen zusammen. Er hatte Angst, dass jetzt die Folter beginnen würde. Dann aber grüßte ihn eine Stimme, die gar nicht sonderlich hart klang. Jemand trat auf ihn zu, löste seine Hand- und Fußfesseln und nahm ihm den Knebel und erstaunlicherweise auch die Augenbinde ab. Es war der Ägypter mit dem honigfarbenen Gesicht, der Ferris in Hama die Pistole gegen die Rippen gedrückt hatte. Er gab Ferris einen Einmalrasierer, Rasierschaum und ein Handtuch und führte ihn in ein Badezimmer, wo es auch eine Dusche gab. »Machen Sie sich sauber«, sagte der Ägypter. »Sie sind unser Gast.«
Sie versuchten ihn milde zu stimmen. Ferris wusste nicht, was sie damit bezweckten, aber er befürchtete, dass es kein gutes Zeichen war. Er schloss die Tür, drehte die Dusche auf und ließ das Wasser über seinen Körper laufen. Er fühlte sich schmutzig von den Fahrten in engen Verstecken und von der vergammelten Matratze, auf der er geschlafen hatte. Während er zusah, wie das Wasser im Abfluss verschwand, wünschte er sich, dass sich sein ganzer Körper einfach auflösen und in einem Loch im Boden verschwinden könnte. Es fühlte sich gut an, wieder sauber zu sein, und noch viel besser, sich rasieren zu können. Ferris betrachtete seine Augen im Spiegel. Sie lagen tief in den Höhlen und hatten dunkle Ringe. Das Funkeln war daraus verschwunden – was blieb, war hart und grau und unerbittlich. Er fragte sich, ob Alice ein solches Gesicht wohl noch lieben konnte – vorausgesetzt, er überlebte das alles hier und sah sie wieder. Andererseits musste der Albtraum, den sie erlebt hatte, auch sie verändert haben. Sie waren beide nicht mehr dieselben Menschen, die sie noch vor kurzer Zeit gewesen waren. Ferris trocknete sich ab und versuchte, sich für das zu wappnen, was ihn oben im Haus erwartete.
Sie holten ihn im späten Vormittag, nachdem ein weiteres
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