Der Mann, der niemals lebte
nahm seine Hand. »Was immer auch mit Ihnen geschehen mag, Alice Melville wird erfahren, wie sehr Sie sie geliebt haben. Dafür werde ich sorgen. Sie werden in ihrem Herzen weiterleben.«
Der Fahrer, der in dem alten Mercedes-Taxi vor der Tür saß, rauchte und wartete darauf, dass es losging. Rings um die Häuser waren die typischen Geräusche einer arabischen Stadt bei Sonnenuntergang zu hören. Die Kinder, die von der Schule heimgekommen waren, spielten Fußball, und ihre Mütter, die gerade das Abendessen kochten, riefen ihnen aus den offenen Fenstern der Häuser etwas zu. Ferris kam es so vor, als würde die Zeit stillstehen, während die Schatten länger wurden, die Farben ergrauten und das Tageslicht sich langsam zurückzog.
Es sei Zeit zum Aufbruch, sagte Hani, nachdem er Ferris noch ein letztes Mal seinen Plan erläutert hatte. Das Taxi würde ihn über die Grenze bei Deraa nach Syrien bringen. Der Fahrer war ein Schmuggler, der nebenbei kleine Aufträge für den Geheimdienst erledigte, und bestach die korrupten syrischen Zollbeamten schon seit so langer Zeit, dass er fast zur Familie gehörte. Mit ihm würde Ferris in einem Versteck unter der Rückbank unbehelligt die Grenze passieren. Diese unbequeme Fahrt würde etwa dreißig Minuten dauern, bis der Fahrer ihn einige Kilometer hinter der Grenze wieder herauslassen und nach vorne auf den Beifahrersitz holen würde. Hani wollte zwei Wagen mit seinen Männern nach Norden schicken, die das Taxi bis Damaskus und schließlich nach Hama begleiten sollten. Sobald Alice freigelassen war, würden diese Männer sie unter ihren Schutz stellen und nach Jordanien bringen. Sie waren schwer bewaffnet für den Fall, dass etwas schiefging, was aber, wie der Jordanier Ferris mehrmals versicherte, ganz sicher nicht passieren würde. Außerdem versprach er ihm, dass seine Männer, falls sich eine Gelegenheit dazu bieten sollte, alles tun würden, um auch Ferris zu retten.
Am Schluss gab Hani dem Amerikaner noch ein Einmalfeuerzeug, das in Wirklichkeit ein Notrufsender war. »Wenn Sie Probleme bekommen und dringend Hilfe brauchen, drücken Sie diesen Knopf hier«, erklärte er. »Wir kommen sie dann holen.« Ferris bedankte sich bei seinem Freund. Trotz des großzügigen Angebots, ihn zu retten, wusste er doch tief in seinem Herzen, dass er eine Reise ohne Wiederkehr antrat.
Hama, Syrien
Ferris ging allein zu dem syrischen Taxifahrer hinunter. Der Mann war Mitte vierzig, hatte einen verschlagenen Blick und einen mächtigen Schnurrbart, der ihm wie eine schlaffe Bürste über die Lippen hing. Er öffnete die hintere Tür des rostigen roten Mercedes, betätigte einen versteckten Hebel und klappte dann den Rücksitz nach vorne. Darunter kam eine Art Fach zum Vorschein, gerade groß genug, dass ein Mensch darin Platz fand. Auf dem schmutzigen Teppich, der den Boden bedeckte, lag eine Flasche Mineralwasser bereit. »Businessclass«, murmelte Ferris vor sich hin. Der Fahrer nickte grinsend. Ferris kletterte in den Wagen und zwängte sich in das enge Versteck hinein. Es stank nach Schweiß und nach Urin – offensichtlich war er nicht der erste, den der Fahrer heimlich über die Grenze schmuggelte. Der Taxifahrer sagte, er werde drei Mal klopfen, sobald Ferris gefahrlos herauskommen könne. Dann klappte er den Rücksitz über ihm zu und ließ Ferris in völliger Dunkelheit zurück.
Ferris war kein morbider Mensch. Als Kind hatte er sich natürlich Gedanken über den Tod gemacht und versucht zu begreifen, dass er irgendwann einmal nicht mehr da sein würde, doch weil ihm diese Gedanken dann doch viel zu schwierig und zu deprimierend erschienen waren, hatte er sie irgendwann wieder aufgegeben. Mit fünfzehn oder sechzehn hatte er eine Zeit lang befürchtet, als männliche Jungfrau sterben zu müssen, aber nachdem Priscilla Warren ihm diese Angst genommen hatte, war es mit seinen Gedanken an die Vergänglichkeit alles menschlichen Daseins zunächst einmal vorbei gewesen. Jetzt aber, in dem dunklen, stinkenden Taxi-Versteck, war er gezwungen, sich noch einmal mit der Aussicht des eigenen Nicht-mehr-Seins auseinanderzusetzen. Dabei fürchtete er sich gar nicht so sehr vor dem Sterben selbst, sondern vor den Schmerzen, die dem vorangehen würden. Er dachte an die Zahnschiene mit dem Gift in seiner Tasche und fragte sich, wann er sie wohl verwenden sollte. Wenn er zu lange zögerte, war es vielleicht irgendwann zu spät. Sie würden ihm die Schiene wegnehmen, noch ehe er
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