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Der Mann, der niemals lebte

Titel: Der Mann, der niemals lebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ignatius David
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daraufbeißen und das Gift freisetzen konnte, das ihm alle weiteren Qualen ersparte. Wenn er sie aber zu früh einsetzte, nahm er sich am Ende vollkommen unnötig das Leben, kurz bevor man ihn entweder freigelassen oder befreit hätte. Er würde sich selbst um die Möglichkeit bringen, ein normales Leben zu führen, mit Alice alt zu werden und Kinder zu bekommen.
    Das Taxi fuhr jetzt langsamer – offenbar näherten sie sich dem jordanischen Grenzposten. Ferris verkrampfte sich in seinem engen Versteck, doch der Halt verlief kurz und komplikationslos. Vermutlich hatte Hani den Grenzposten befohlen, den Mercedes einfach durchzuwinken. Der Wagen rumpelte weiter, hinein ins Niemandsland zwischen Jordanien und Syrien, und Ferris versank wieder in seinen düsteren Gedanken. Wenn er am Leben blieb, würde er vielleicht Kinder mit Alice haben; wenn er am Leben blieb, würde er vielleicht mit ihr alt werden. Mehr als dieses »Vielleicht« hatte er nicht. Seine Hoffnung ähnelte der eines unheilbar Kranken: die Hoffnung, dass ein bereits gefälltes Todesurteil doch noch auf wundersame Weise aufgehoben würde, dass er seine schwachen Glieder bis vor das Tor zur Ewigkeit schleppen und den Türhüter irgendwie dazu bringen konnte, ihm noch ein paar Stunden, Tage, Jahre zu gewähren. Natürlich konnte sich Ferris durchaus Schmerzen vorstellen, die so grauenvoll waren, dass man lieber im Nichts versank, als sie noch länger zu ertragen, aber noch grauenvoller als solche Schmerzen war die Vorstellung, Alice niemals wiederzusehen. Auch wenn sie ihm die Beine mit einer Eisenstange brachen, ihm die Kniescheiben durchschossen, ihm das Rückgrat mit einem Vorschlaghammer zerschmetterten: Er würde doch in jedem Augenblick der Qual an Alice denken und daran, dass er für sie am Leben bleiben musste.
    Ihr Bild stand ihm klar und vollkommen vor Augen, und in einem plötzlichen Moment der Gewissheit tat Ferris etwas ganz Impulsives. Er holte den Behälter mit der Zahnschiene aus der Tasche und legte ihn auf den schmutzigen Teppich, mit dem sein Versteck ausgekleidet war. Wenn er das Gift weiter bei sich trug, würde er in einem Moment der Angst am Ende vielleicht doch in Versuchung geraten, davon Gebrauch zu machen, und dann würde er nicht nur sein Leben opfern, sondern auch die Liebe. Er würde einen sinnlosen Tod sterben.
    Natürlich hatte er Hoffman versprochen, die Geheimnisse zu bewahren, sich eher selbst das Leben zu nehmen, als Dinge zu enthüllen, die andere das Leben kosten konnten. Aber wenn er dieses Versprechen hielt, brach er ein anderes, das inzwischen viel schwerer für ihn wog. Er schob die Zahnschiene mit dem Gift so weit wie möglich von sich weg in die Dunkelheit seines engen Gefängnisses.
     
    Plötzlich hielt das Taxi unvermittelt an, und Ferris hörte arabisches Stimmengewirr. Sein Fahrer sprach mit jemandem, den er »Herr Hauptmann« nannte, und Ferris nahm einen Anflug von Angst in seiner Stimme wahr. Eine Autotür wurde geöffnet und dann wieder zugeschlagen, er hörte Schritte, die den Wagen umrundeten. Irgendetwas stimmte nicht. Der Hauptmann schnauzte den Fahrer an, so wie Armeeoffiziere es tun, wenn sich jemand vollständig in ihrer Gewalt befindet. Die Grenze sei geschlossen, blaffte er, es sei viel zu spät, der Fahrer kenne schließlich die Regeln. Der Fahrer seinerseits wiederholte immer wieder einen Namen. Abu Walid habe gesagt, es sei in Ordnung. Abu Walid habe gesagt, es werde keine Probleme geben. Reden Sie mit Abu Walid. Ferris hörte schwere Stiefel auf dem Asphalt, er hörte die Proteste des Fahrers, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse, dann entfernten sich die Schritte, und es wurde still.
    Ferris, der eng zusammengekauert auf dem Boden des Taxis lag, verspürte plötzlich eine völlig neue Angst. Was, wenn er nun hier starb … oder wenn man ihn, was fast noch schlimmer war, in Syrien ins Gefängnis steckte und dann irgendwann nach Jordanien zurückschickte? Für Alice würde das den sicheren Tod bedeuten. Die Entführer warteten in Hama auf Ferris, und wenn er nicht kam, würden sie sie töten. Das, erkannte Ferris, wäre das Allerschlimmste: dass nicht er, sondern Alice sterben musste. Sein Leben schien ihm jetzt nur noch einen Sinn zu haben, wenn er Alice retten konnte. Wenn ihm diese Möglichkeit genommen wurde, dann würde er tatsächlich allem ein Ende setzen und sich umbringen.
    Die Wartezeit zog sich immer länger hin. Von Zeit zu Zeit hörte Ferris in einiger Entfernung laute

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