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Der Mann, der niemals lebte

Titel: Der Mann, der niemals lebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ignatius David
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Zweiten Weltkrieg schon fast verloren hatten. Sie hatten den katastrophalen Rückzug bei Dünkirchen und die Verheerungen des Blitzkriegs erleiden müssen und sich einem Feind gegenübergesehen, der viel stärker und sehr viel skrupelloser war als sie. Eigentlich sprach damals nur eines für die Briten: Sie waren schon immer gut im Lösen kniffliger Rätsel gewesen. Jetzt stand Ferris in der Bibliothek und nahm Bücher aus den Regalen in der Hoffnung, etwas zu finden, was ihn aufmuntern oder zumindest ablenken würde.
     
    Als Alice schon eine Woche fort war, saß Ferris wieder einmal vor einer einsamen Mahlzeit in seiner großen, leeren Wohnung. An den Fenstern rüttelte der Oktobersturm, ein heftiger, trockener Wüstenwind, dessen Kälte einem durch Mark und Bein ging. Christina rief an, wie fast jede Woche um diese Zeit, doch ihr Gespräch verlief noch viel belangloser als sonst. Ferris durfte nicht über seine Arbeit reden und wusste nicht, was er ihr sonst erzählen sollte. Christina flüsterte ihm so lange mit heiserer Stimme ins Ohr, was sie alles im Bett mit ihm machen wollte, wenn er wieder zu Hause war, bis Ferris sie bat, damit aufzuhören. Er sagte, sein Telefon werde höchstwahrscheinlich abgehört, aber das schien sie nur noch schärfer zu machen. »Ich mag das nicht mehr«, sagte Ferris und meinte damit nicht nur das Sexgeflüster über ein angezapftes Telefon, sondern ihre ganze Beziehung. »Ach, Schätzchen, du hast einfach nur schlechte Laune«, zwitscherte Christina. »Ruf mich zurück, wenn du nicht mehr so mufflig bist.«
    Gib’s endlich zu, sagte Ferris zu sich, nachdem er aufgelegt hatte. Du vermisst Alice. Und es kam noch etwas anderes hinzu: die Angst, dass sie sich nicht mehr für ihn interessieren würde, jetzt, wo sie in Boston war, wo alle möglichen tollen Typen herumliefen. Irgendwie kam ihm in seinem Leben plötzlich alles verkehrt vor. Er war mit einer Frau verheiratet, die er nicht liebte, und war verliebt in eine andere Frau, von der er befürchten musste, dass sie sich inzwischen schon längst für andere Männer interessierte.
     
    Ferris lag im Bett und versuchte einzuschlafen. Und wie häufig in solchen Momenten spulte sich sein inneres Videoband bis zu einem Augenblick seines Lebens zurück, der sich ihm für immer eingeprägt hatte. Es war ein Ringkampf während seines letzten Schuljahrs an der George Marshall High School in Fairfax. Ferris lag nach Punkten weit in Führung und hatte den Kampf schon so gut wie gewonnen. Sein Gegner war am Ende, aber Ferris wollte nicht nachlassen. Er war entschlossen, den Kampf durch einen Schultersieg zu beenden. Also nahm er seinen Gegner in den Schwitzkasten und drückte mit aller Kraft seinen Arm nach unten, um ihn mit beiden Schulterblättern auf die Matte zu drücken. Der Junge stöhnte nur kurz auf, und gleich darauf hörte Ferris plötzlich ein lautes Knacken, gefolgt von einem markerschütternden Schrei. Dann wurde ihm klar, dass er seinem Gegner gerade den Arm gebrochen hatte. Das Publikum sah erstarrt zu, wie der Verletzte von der Matte stolperte und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Arm hielt, dann fingen ein paar Leute an zu buhen. Es waren nicht viele, doch sie hatten offenbar gespürt, dass etwas Schlimmes passiert war – dass Ferris nicht nur den Kampf gewinnen, sondern seinen Gegner geradezu vernichten wollte. Als ihm diese Szene jetzt wieder einfiel, erinnerte er sich vor allem an den Augenblick kurz vor dem Knacken, als der andere Junge mit seinem Stöhnen versucht hatte, ihn zum Aufhören zu bewegen.
    Ferris verschloss die Augen vor diesem Bild. Seit fast zwanzig Jahren lebte er jetzt mit dieser Erinnerung, und sie machte ihm noch immer zu schaffen. Dabei war es gar nicht die Gewalt an sich, die ihn so erschreckte, sondern die Tatsache, dass er überhaupt nicht beabsichtigt hatte, dem Jungen den Arm zu brechen. Es war immer möglich, jemandem Schaden zuzufügen, ohne es eigentlich zu wollen. Ferris, der gelernt hatte, wie er sein Bewusstsein von belastenden Dingen ablenken konnte, verbannte die düsteren Gedanken aus seinem Kopf und schlief bald darauf ein.
     
    Als Alice nach zehn Tagen wieder auf dem Queen-Alia-Flughafen gelandet war, rief sie als Erstes Ferris an. »Tut mir wirklich leid, aber ich habe dich vermisst«, sagte sie und klang dabei, als würde sie ihm eine Charakterschwäche eingestehen. »Ich habe viel an dich gedacht, während ich weg war, Roger. Eigentlich die ganze Zeit. Deshalb habe ich auch

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