Der Mann, der niemals lebte
müsse wohl ein Irrtum sein. Ferris fragte Ayman, was denn so lange gedauert habe, wenn sie die Nachricht gar nicht verstanden hätten. Sie hätten ihm Kaffee und Tee angeboten, um gastfreundlich zu sein, berichtete Ayman, ihn nach seinen Angehörigen in Dschenin gefragt und nach seinen Freunden und ob er je von den Israelis verhaftet worden sei. Ayman schien froh zu sein, seine Aufgabe erfüllt zu haben, auch wenn er nicht wusste, was für einen Sinn sie eigentlich gehabt hatte. Wann er denn nun sein Visum bekommen werde? Ferris sagte ihm, es werde wohl noch ein paar Wochen dauern, maximal einen Monat.
Der jordanische Geheimdienst fand Aymans Leiche drei Tage später in einem Müllcontainer, unweit der Anschrift in Zarqa, wo das Treffen hätte stattfinden sollen. Man hatte ihm die Zunge herausgerissen, er hatte nur noch einen blutverkrusteten Stumpf im Mund. Und es gab noch weitere Anzeichen, dass man ihn gefoltert hatte: gebrochene Rippen, abgetrennte Finger. Einer von Hanis Mitarbeitern gab die Fotos des Toten in einem Umschlag in der Botschaft ab, zusammen mit einem Zettel: »Zur Info«. Offensichtlich wusste Hani, dass Ferris mit
Ayman in Kontakt gestanden hatte. Ferris zwang sich dazu, die Fotos anzuschauen. Zumindest das war er dem armen Kerl schuldig.
Dann rief er Hanis Stellvertreter an und bat ihn um einen Gefallen. Er gab ihm die Anschrift des Hauses der Alousis am Jebel Akhtar und bat ihn, dort umgehend eine Razzia durchzuführen und alle Anwesenden zu verhaften. Er werde Hani später alles erklären. Doch als das GID-Team eine Stunde später bei der Villa eintraf, war dort kein Mensch mehr. Offenbar waren die Bewohner in der Nacht zuvor überstürzt geflohen, das sagten zumindest die Nachbarn. Hanis Stellvertreter rief Ferris an und versicherte ihm, der Geheimdienst werde versuchen, die Alousis aufzuspüren, aber Ferris vermutete, dass sie längst über die Grenze waren – auf dem Weg nach Damaskus vielleicht, nach Riad oder nach Falludscha.
In einem war Ferris’ Aktion dennoch ein Erfolg gewesen: Nun stand zweifelsfrei fest, dass das sichere Haus tatsächlich eines gewesen war. Nun aber war es aufgeflogen, und alles, was sie mit geduldiger Überwachung vielleicht noch hätten herausfinden können, war hinfällig geworden. Hani rief nicht zurück, und Ferris war froh darüber. So würde er ihm wenigstens nicht erklären müssen, wie der junge Mann aus Dschenin überhaupt in den Müllcontainer gekommen war. Und er hatte auch selbst etwas aus der Operation gelernt: Sein Gegner war noch sehr viel schwerer zu durchschauen, als er geglaubt hatte. In der Mauer, vor der er stand, war nicht ein einziger Stein locker. Vielleicht hatte Hoffman ja recht: Die einzige Möglichkeit, da durchzukommen, war eine List. Aber Ferris hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte.
Ferris wartete auf Alice und langweilte sich im Büro. Sosehr er die eigentliche Spionagearbeit mochte, so sehr ödete ihn der damit verbundene Papierkram an. Ständig musste man irgendwelche Berichte, Anträge und interne Mitteilungen schreiben und mit dem Pseudonym unterzeichnen, das unter CIA-Mitarbeitern nur als der »Witzname« firmierte. Ferris hieß in diesem System »Hanford J. Sloane«, ein Deckname, der es ihm jederzeit erlaubt hätte, sich ein komplettes Phantasieleben voller falscher Operationen und Rekrutierungen zu erfinden, wenn ihm danach gewesen wäre.
Hin und wieder wurde der triste Büroalltag von einer verschlüsselten Mail seines besten Freundes aus Farm-Zeiten aufgehellt. Andy Cohen, dessen Witzname »Everett M. Farcas« lautete, war ein ehemaliger Doktorand der Sinologie, der sich, genau wie Ferris, in der Bibliothek zu Tode gelangweilt und irgendwann dazu entschlossen hatte, zur CIA zu gehen. Er war groß und hatte ein kleines Ziegenbärtchen, das er während der Ausbildung abrasieren musste, aber immer wieder wachsen ließ. Cohen zog über alles und jeden her. Und anders als Ferris, der ja schon von seinem Vater gewusst hatte, wie stinknormal und spießig es beim Geheimdienst eigentlich zuging, hatte er von einer Welt voller Pierce Brosnans und Sharon Stones geträumt. Als sie zum ersten Mal ihrem schwammigen, ältlichen Ausbilder gegenüberstanden, hatte er Ferris zugeraunt: »Das soll ja wohl ’n Witz sein.« Die Zeit auf der Farm hatte Cohen zu der Überzeugung gebracht, dass bei der CIA etwas ganz fundamental im Argen lag. Am Abend vor der Abschlussfeier hatte er zu Ferris gesagt: »Weißt du, diese Typen, das
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