Der Mann, der niemals lebte
sind alles richtige Loser.« Aber dann war er trotzdem geblieben, und nun schickte er Ferris regelmäßig witzige Berichte darüber, wie inkompetent und lächerlich sich seine Kollegen aufführten.
Cohens erster Auslandseinsatz hatte ihn nach Taiwan geführt, wo er ohne ausdrücklichen Befehl seines Vorgesetzten eigenmächtig losgezogen war und einheimische Informanten rekrutiert hatte. Für diese unverzeihliche Eigeninitiative wurde er in die Zentrale strafversetzt, und zwar in die Abteilung für Mitarbeitervalidierung. Sie war Anfang der Neunziger eingerichtet worden, um der Verschwendung von Zeit und Ressourcen Einhalt zu gebieten, und hielt nun selbst mit enormem bürokratischem Aufwand Dutzende von Bürohengsten in Lohn und Brot. Ihre Mitarbeiter hatten die Aufgabe, ständig sämtliche Agenten zu überprüfen und diejenigen auszumustern, die nicht mehr effizient arbeiteten. Obwohl Cohen, der fast alle Geheimdienstmitarbeiter für unbrauchbar hielt, nichts lieber tat, als unfähige Agenten zu feuern, ging ihm das endlose Sichten der Personalakten und der ganze andere Papierkram bei der Validierungsabteilung gewaltig auf den Geist. Also arbeitete er so wenig wie möglich und vertrieb sich die Zeit lieber mit Aktienhandel im Internet sowie dem Verfassen ellenlanger Lästermails an Roger Ferris.
»Meine Kollegen hier sind wirklich dumm wie Brot, Roger«, begann seine jüngste Epistel. »Die machen mir richtig Angst. Ich meine, hier landen doch die ganzen Leute, die auf der Farm zu blöd zum Kartenlesen waren. Und das Beängstigende ist, dass die dann darüber entscheiden, wer weiter bei der CIA arbeiten darf und wer nicht. Ist das zu fassen? Der Typ im Büro neben mir heißt Stan und ist ein Mormone aus Salt Lake City. Gestern hat er mir erzählt, der Agent, den er gerade prüft, müsse beurlaubt werden, weil er bei einem Lügendetektortest zugegeben hat, er habe als Junge auf dem Bauernhof seiner Eltern in Nebraska mal ein Schaf gevögelt. Völlig lächerlich, oder? Aber Stan war richtig betroffen. Er hält den Mann für ein Sicherheitsrisiko. Glaubt der etwa, das Schaf wird ihn irgendwann erpressen? Das muss man sich mal geben! Aber es kommt noch besser. Erinnerst Du Dich an Aaron Fink aus unserem Ausbildungskurs? Da erzählt mir also Stan, er glaube, die Leute, die Fink in Lima rekrutiert hat, wären verdächtig, weil so viele jüdische Namen dabei sind. Geht’s noch? Klar, Aaron selbst gehört eindeutig zum auserwählten Volk, aber glaubt Stan denn, dass er deshalb schon ein Doppelagent im Auftrag von Baron Rothschild ist? Und als ich mir die Liste von Aarons Agenten anschaue, sind das fast alles Namen wie Sanchez oder Ruiz, ganz normale spanische Namen eben, nichts Richtung Schickelgruber oder Gottbaum. ‹Hey, Kumpel), sage ich zu Stan, ‹ich glaube, du bist da irgendwie auf dem Holzweg. Das sind keine jüdischen Namen, und selbst wenn es welche wären, was macht das schon?) Und was antwortet Stan? ‹Er könnte ja die Namen geändert haben.) Großer Gott! Mit so was hat man es hier zu tun. Nicht mehr nur mit Grenzdebilen, sondern mit ernstlich antisemitischen Grenzdebilen. Ich sage Dir, es geht steil bergab mit dem Laden. Komm bloß nicht wieder. Bleib an der Front, solange Du kannst, und schlag Dir dann mit deinem kaputten Bein eine Behindertenrente raus. Ich heuere in der Zwischenzeit bei Fox News an, da kann ich mir solchen Scheiß wenigstens ausdenken und damit gutes Geld machen! Gruß und Kuss, Dein Everett M. Farcas.«
Ferris schickte ihm eine kurze Antwort und hängte noch ein paar Witzchen an, die er im Internet gefunden hatte. Im Grunde hatte Cohen ja recht: Ein Großteil der Geheimdienstmitarbeiter war geradezu erschreckend inkompetent. Aber Ferris war das nicht, und Hoffman ganz sicher auch nicht. Und deshalb würde er den Rest einfach vergessen und weitermachen.»
Um sich abzulenken, ging Ferris in die Bibliothek des British Council, um zu sehen, ob es dort neue Bücher über die Operationen des britischen Geheimdienstes im Zweiten Weltkrieg gab, für die er sich schon seit längerem lebhaft interessierte. Über die Dechiffrierer von Bletchley Park, den wissenschaftlichen »Krieg der Zauberer« und das »Double-Cross-System«, mit dem die Briten die Deutschen überlistet hatten, indem sie deren Agenten in Großbritannien gefangen nahmen und sie umdrehten, hatte er praktisch alles gelesen, was es gab. Vor allem faszinierte ihn die Tatsache, dass die Briten Anfang der Vierzigerjahre den
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