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Der Mann, der niemals lebte

Titel: Der Mann, der niemals lebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ignatius David
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Intellektuelle. Sie war sehr belesen, und ihr Sohn fand, dass sie eine hervorragende Universitätsprofessorin abgegeben hätte. In ihrem Haushalt wurde am Sonntagnachmittag nie ein Baseballspiel im Fernsehen angesehen. Stattdessen diskutierte sie stundenlang mit Roger über irgendwelche abgehobenen Konzepte, während ihr Mann in seiner Werkstatt an filigranen Holzarbeiten herumschnitzte, die absolut keinen praktischen Nutzen hatten. Als ihr Sohn Journalist bei Time wurde, war sie davon sehr angetan. Umso mehr verwunderte es sie, dass er diese Stelle wieder aufgab, um für das »Außenministerium« zu arbeiten. Natürlich war ihr nach all den Jahren mit ihrem geheimniskrämerischen Ehemann rasch klar, für wen Roger tatsächlich arbeitete. Mehr noch, sie begriff sogar, dass er damit eine alte Rechnung begleichen wollte.
    Als Ferris nach dem Essen aufstand und zu dem Regal mit den Fotoalben hinüberging, versuchte er, sein Humpeln vor seiner Mutter zu verbergen. Das gelang ihm natürlich nicht.
    »Dein Bein wird auch nicht besser, oder?«, fragte sie.
    »Es ist völlig in Ordnung«, sagte Ferris. »Ich bin wieder fit wie ein Turnschuh.«
    Die Familienalben standen fein säuberlich beschriftet und nach Jahren und Themen geordnet in einem Bücherregal. Ferris nahm eines heraus, auf dessen Rücken »Grandma und Baba« stand. Es enthielt Bilder von den Eltern seines Vaters, die aus der Nähe von Pittsburgh stammten. Die Eltern seiner Mutter hatten in Upper Saddle River in New Jersey gelebt und waren schöngeistige Menschen gewesen, die in der Familie »Honey« und »Gramps« geheißen hatten. In dem Album von Grandma und Baba befanden sich nicht allzu viele Bilder, denn die beiden hatten sehr zurückgezogen gelebt und sich nur ungern fotografieren lassen. Ferris hatte immer den Eindruck gehabt, als schämten sie sich dafür, dass Baba nur ein einfacher Stahlarbeiter war, der in Amerika nie so heimisch geworden war, als dass er zur angelsächsisch-protestantischen Familie der Schwiegertochter gepasst hätte.
    Baba war genau so muskulös gewesen wie Ferris, hatte aber einen dunkleren Teint gehabt, und seine kohlschwarzen Haare standen ihm vom Kopf ab wie die Borsten einer Scheuerbürste. Von seinem Vater hatte Ferris auf die Frage, wo genau seine Familie denn herkomme, immer nur die vage Antwort bekommen: »Irgendwo vom Balkan, vielleicht aus Bosnien.« Konkreteres hatte er nie aus ihm herausgekriegt.
    »Ich habe in Jordanien einen Mann kennengelernt, der behauptet, ich müsse arabisches Blut in den Adern haben«, sagte er jetzt zu seiner Mutter. »Vielleicht war das ja nur ein Witz. Ich weiß es nicht.«
    »Baba hat mir manchmal erzählt, er stamme aus dem Osmanischen Reich, was seinerzeit allerdings ziemlich viele Gebiete umfasst hat«, erwiderte sie. »Ich habe dabei immer an solche Länder gedacht, deren Namen man kaum aussprechen kann, Bosnien-Herzegowina oder Abchasien. Er sagte, seine Nachbarn seien Muslime gewesen, daran erinnere ich mich noch gut. Aber er sprach nicht gern darüber, und dein Vater hat ihn auch nicht dazu gedrängt. In Pittsburgh lebten damals alle möglichen Einwanderer, und ich denke, er wollte nicht als »Kümmeltürke« oder so etwas beschimpft werden. Baba hat sich einfach nur als Amerikaner verstanden und wollte von der Vergangenheit nichts mehr wissen – so kam es mir jedenfalls vor.«
    »Ferris klingt nicht gerade orientalisch, finde ich. Dad hat mal erwähnt, Baba hätte früher anders geheißen, aber er wusste nicht, wie.«
    »Das hat er mir auch gesagt, bevor wir geheiratet haben. Ich hatte immer den Eindruck, dass er sich für seine Eltern schämt.« Ferris’ Mutter schüttelte den Kopf. »Ich glaube, er hatte irgendwo sogar noch ein paar alte Familienpapiere, aber er wollte sie nie herausrücken. Irgendwie fand ich es traurig, dass dein Vater sich so wenig für seine Herkunft interessiert hat. Ich hätte so gerne einen Familienstammbaum für ihn erstellt, aber er hatte überhaupt kein Interesse daran. Manchmal kam es mir so vor, als wäre er nur deshalb zur CIA gegangen, weil dort der persönliche Hintergrund eines Menschen geradezu ausgelöscht wird.«
    »Babas Familie war katholisch, oder?«
    »Ich glaube schon. Auf jeden Fall ist er mit Grandma jeden Sonntag zur Messe gegangen. Ihm hat es nichts ausgemacht, dass ich Protestantin bin, aber Grandma schon. Als ich ihr erzählt habe, dass ich Kongregationalistin bin, hat sie extra noch einmal nachgefragt, ob das vielleicht etwas

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