Der Mann, der niemals lebte
der die Kleinstädte von Virginia mit Washington verband. Die meisten Nachbarn hatten in irgendeiner Weise mit dem Pentagon oder der CIA zu tun, so wie sein Vater auch. Als Roger noch klein war, hisste sein Dad jeden Morgen die amerikanische Flagge vor dem Haus, hörte damit aber eines Tages auf. Als Roger ihn nach dem Grund fragte, deutete er bloß auf die Häuser ihrer Nachbarn. »Hier gibt es zu viele Flaggen«, sagte er bitter, »und zu wenig Patrioten.«
Ferris’ Mutter nahm einen Job als Englischlehrerin an der George Marshall High School an, die auch ihr Sohn besuchte. Roger hatte seine ganze Kindheit hindurch das Gefühl, dass etwas mit seiner Familie nicht in Ordnung war, dass ihr ganz normales amerikanisches Leben einen verborgenen Makel hatte. Er hatte Angst davor, dass sein Vater seinen Job, über den er niemals sprach, verlieren oder dass seine Mutter das verzweifelte, stumme Brüten seines Vaters eines Tages satthaben und einfach nicht mehr nach Hause kommen würde.
Vor lauter Angst, die Familie könnte auseinanderbrechen, tat Ferris alles dafür, seine Eltern glücklich zu machen. Er war nicht nur einer der besten Schüler seines Jahrgangs, sondern auch noch ein sehr guter Ringer und Footballspieler. In beiden Sportarten galt er als »harter Bursche«. Im Football-Team der Highschool hatte er als Linebacker in der Verteidigung angefangen, aber in der zweiten Hälfte seines Abschlussjahrs spielte er auch im Angriff, nachdem sich der wichtigste Fullback der Mannschaft verletzt hatte. Beim Ringen war er dank seiner guten Kondition und seiner Fähigkeit, im letzten Drittel des Kampfes noch einmal frische Kräfte zu mobilisieren, bis zu den Staatsmeisterschaften gelangt. Ins Jahrbuch seiner Abschlussklasse hatte er als Motto unter sein Bild ein Zitat von Vince Lombardi geschrieben: »Gewinnen ist nicht alles, gewinnen ist das Einzige.« Wenn überhaupt, dann hatte er auf der Highschool nur ein einziges Problem: Er war zu intelligent für eine echte Sportskanone und zu sportlich für einen echten Streber und saß deshalb im Grunde zwischen allen Stühlen. Also wurde er ein Meister darin, seine Gefühle nicht zu zeigen, sodass seine Mitschüler nie genau wussten, woran sie bei ihm waren. Jahrelang verbarg er seine große Sehnsucht, endlich seine Unschuld zu verlieren, und als er das im letzten Schuljahr erfolgreich hinter sich gebracht hatte, waren es andere Dinge, beispielsweise sein ausgeprägter Ehrgeiz, die er vor den anderen verbarg. Vor seiner Mutter hatte er hingegen keine Geheimnisse. Sie wusste alles über ihn bis hin zu seinem Bedürfnis, so bald wie möglich seiner Familie zu entkommen – und dem Schatten des Versagens, der über seinem Elternhaus lag.
Ferris kam nur ungern zurück nach Hause, das hatte sich auch nicht geändert, seit sein Vater tot war. Immer, wenn er seine Mutter besuchte, musste er an ihn denken, was ihm jedes Mal vorkam wie eine abrupt abgebrochene, nie zu Ende gebrachte Diskussion. Und nun kamen zu den Erinnerungen an seinen Vater auch noch die an Christina hinzu. Vor ihrer Hochzeit und auch danach waren sie öfters im Haus seiner Mutter gewesen und hatten sich dort in fast allen Zimmern und in der Natur ringsum viele Male geliebt. Wenn Ferris an Christina dachte, überlief ihn ein kalter Schauer. Immer wieder hatte er versucht, Alice anzurufen, doch sie war seit Tagen nicht erreichbar. Vielleicht war sie ja unterwegs, vielleicht ging sie auch bloß nicht ans Telefon. Ferris vermisste sie sehr.
Seine Mutter bestand darauf, dass er bis zum Abendessen blieb. Sie kochte ihm sein Leibgericht – eine Mischung aus Rinderhackfleisch, Dosenerbsen und Tomatensoße –, das er als Kind immer »Tohuwabohu« genannt hatte. Eigentlich war es nie sein Leibgericht gewesen, nicht einmal annähernd, aber weil er seiner Mutter die Freude nicht verderben wollte, machte er gute Miene zum bösen Spiel. Wenn sie für ihn kochte, hatte sie offenbar das Gefühl, trotz allem eine gute Mutter zu sein. In dieser Hinsicht war sie etwas seltsam. »Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich eine Hochstaplerin, und alle würden mich durchschauen«, hatte sie ihrem Sohn einmal zu vorgerückter Stunde gestanden, als sie nach dem Abendessen noch in der Küche zusammensaßen und sich unterhielten. Ferris hatte versucht, ihr das auszureden, aber seine Mutter hatte ihren entrückten Blick bekommen, der ihm zu signalisieren schien, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
Joan Ferris war eine
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