Der Mann, der niemals lebte
Wohnung«, sagte Ferris. »Du hast mir nie erzählt, dass sie so schön ist.«
»Du hast ja auch nicht gefragt. Außerdem war es offensichtlich, dass du mich bedauerst, weil ich in der Altstadt wohnen muss. Als du mich hier abgesetzt hast, hast du ein Gesicht gemacht, als könnte man in so einem alten Haus ganz ohne Klimaanlage unmöglich schön wohnen, und da dachte ich mir eben: Der kann mich mal. Er weiß das Gute nicht zu schätzen, selbst wenn er es direkt vor der Nase hat.« Sie zwinkerte ihm zu. »Scherz beiseite. Ich wollte, dass es eine Überraschung für dich wird.«
Sie holte eine Flasche Wein aus ihrem kleinen Kühlschrank und stellte eine Auswahl an Leckereien auf den Tisch: dicke Pistazien, kleine, mit grobem Salz und Pfeffer gewürzte Wachteleier, feine Oliven und knackige, mit etwas Öl beträufelte Paprika- und Karottenstückchen. Ferris, der immer noch ganz benommen von ihrem Anblick war, setzte sich neben Alice aufs Sofa und nahm ihre Hand. Ihre Finger fühlten sich so klein an. Am liebsten hätte er gar nicht geredet, sondern sie einfach nur in den Arm genommen. Aber irgendetwas musste er natürlich sagen.
»Ich habe dich vermisst, Alice«, sagte er. »Es tut mir leid, dass ich so lange fort war. Ich habe mich jeden Tag danach gesehnt, wieder hier bei dir zu sein.«
Sie schwieg einen Moment lang, bevor sie antwortete. »Als du zwei Wochen fort warst, Roger, da hatte ich Angst, dass du nicht mehr zurückkommst. Ich habe mit meiner Bekannten aus der Botschaft gesprochen, und die hat mir gesagt, dass keiner weiß, wann du wiederkommst. Als ich das gehört habe, bin ich einfach in Tränen ausgebrochen. Ich hatte solche Angst, dass du für immer fort bist. Ich dachte, dieses ganze Durcheinander könnte dich einfach so verschlingen.«
Ferris nahm sie in die Arme, und Alice schmiegte sich an ihn. Es dauerte einen Augenblick, bis er merkte, dass sie weinte.
»Nicht traurig sein«, sagte er. »Jetzt bin ich doch wieder da.«
»Ich bin nicht traurig. Ich bin glücklich. Ich will bloß nicht, dass einem von uns beiden etwas Schlimmes zustößt. Die ganze Welt dreht völlig durch. Ich will mich an diesem wunderschönen Ort mit dir verstecken.«
Das Abendessen musste warten. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer. Es war ein Zimmer wie für eine orientalische Prinzessin. Alice hatte es mit Blüten und duftenden Kerzen dekoriert, sodass es aussah wie ein verzauberter Garten. Sie zogen einander ganz langsam aus, jedes Kleidungsstück in seinem eigenen Tempo: Ein Kleid glitt langsam zu Boden, die Knöpfe eines Hemdes lösten sich einer nach dem anderen, ein Gürtel wurde geöffnet und dann ganz behutsam ein Reißverschluss, die Schließe eines BHs wurde aufgehakt, die Träger abgestreift, und dann spürte er ihre Brust weich an seiner. Wie zwei vollkommene Wesen, ging es Ferris durch den Kopf. Selbst die Verletzungen an seinem Bein schienen verschwunden, für ihn ebenso wie für sie. Erst nahm er Alice ganz langsam, wollte jede Sekunde ins Unendliche verlängern, doch ihre Körper waren viel zu gierig, um allzu lange zu warten. Erst hinterher merkte Ferris, dass Alice schon wieder weinte.
»Ich liebe dich«, sagte sie unter Tränen. »Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich liebe dich.«
Ferris hielt sie fest an sich gedrückt. Er war voller Angst. Er liebte sie, und sie liebte ihn. Was sollten sie denn jetzt bloß tun?
Sie lag an seiner Brust auf den weißen Laken. Über ihnen drehte sich träge ein Ventilator, ließ die Kerzen flackern und einen kühlen Lufthauch über ihre Körper streifen. Schließlich stand Alice auf, ging ins Bad und sammelte die verstreuten Kleider vom Boden auf. Als sie Ferris’Jacke aufhob, fiel die kleine Plastikdose mit der Zahnschiene heraus, die Azhar ihm in Langley gegeben hatte. Ferris beugte sich rasch aus dem Bett, um sie zu nehmen, aber Alices Kater Elvis, der aus einer Ecke des Zimmers herbeigeschossen war, kam ihm zuvor und stupste die Dose mit der Nase an.
»Was ist denn das?«, fragte Alice.
»Nichts«, sagte Ferris, nahm dem Kater die Dose weg und steckte sie wieder in die Jackentasche. Alice musterte ihn mit einem merkwürdigen Blick, und er spürte, dass eine ausführlichere Erklärung nötig war. Er machte den Deckel auf und zeigte ihr das halbrunde Stück Plastik. »Nur eine Zahnschiene. Ich knirsche nachts manchmal mit den Zähnen.«
Sie lächelte und sah gleich wieder normal aus. »Irgendwie wirkst du gar nicht, als würdest du mit
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