Der Mann, der niemals lebte
den Zähnen knirschen.«
»So etwas kann man nie sagen. Wir haben alle unsere Sorgen.« Er lächelte sie an und hängte seine Jacke auf. Wie konnte er nur so mühelos einen Menschen belügen, den er liebte?
Ferris wachte um sechs Uhr auf. Sie liebten sich noch einmal leidenschaftlich, dann ging er in seine Wohnung, um zu duschen und sich für die Besprechung mit Hani umzuziehen. Er fühlte sich ganz benommen von so viel Sex und so wenig Schlaf und hatte ein nervöses, flaues Gefühl im Magen. Unter der Dusche musste er plötzlich wieder an den Ringkampf vor zwanzig Jahren denken, als er dem anderen Jungen den Arm gebrochen hatte, ohne es zu wollen. Wo verlief die Grenze? Wann war der Punkt erreicht, an dem der Knochen nicht mehr nachgab, sondern brach?
Hani erwartete ihn bereits im Offiziersclub. Wie angekündigt, war außer ihnen kaum jemand dort. Der Jordanier trug ein zweireihiges Jackett mit glänzenden Messingknöpfen und ein zweifarbiges Hemd mit weißem Kragen, weißen Manschetten und auffälligen Regimentsstreifen, wie man es in der Jermyn Street kaufen kann. Er wirkte ausgesprochen selbstzufrieden an diesem Morgen und musterte Ferris bei der Begrüßung eingehend.
»Na, haben Sie eine lange Nacht gehabt?«, fragte er. »Sie sehen ein wenig … müde aus.«
»Das ist nur der Jetlag«, sagte Ferris. Er fragte sich, ob Hani ihn wohl beobachten ließ, und beantwortete sich die Frage dann selbst. Natürlich ließ Hani ihn beobachten.
Ein Kellner mit weißen Handschuhen servierte ihnen ein echt englisches Frühstück. Der Club mit den verstaubten, alten Ledersesseln und der dunklen Holztäfelung stammte vermutlich noch aus der Zeit, als Glubb Pascha dem haschemitischen Heer britische Disziplin eintrichtern wollte. Hani machte sich mit bemerkenswertem Appetit über sein Rührei her.
»Wir vergeben Ihnen, Roger«, sagte er nach den ersten Bissen. »Es ist uns ein Bedürfnis, Ihnen das zu sagen. Es tut uns leid, dass wir so die Beherrschung verloren haben. Aber wir wurden ernstlich gereizt.« Er sprach von sich selbst im Pluralis Majestatis – was hierzulande nicht einmal der König tat.
»Schon gut«, sagte Ferris. »An Ihrer Stelle wäre ich auch ganz schön wütend geworden. Und ich bin sehr froh, dass Sie mir erlaubt haben, zurückzukommen. Es gefällt mir hier.«
»Das ist uns bekannt. Und von nun an werden wir auf Sie aufpassen wie auf einen kleinen Bruder.«
War das eine Drohung? »Vielen Dank«, sagte Ferris. »Ich weiß das sehr zu schätzen. Aber ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen.«
»Ganz, wie Sie wollen, mein Lieber. Ich vertraue Ihnen, trotz dieser schlimmen Geschichte mit Mustafa Karami, meinem armen Jungen in Berlin. Ich weiß ja, dass das nicht Ihre Schuld war. Aber ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ich wollte Sie unter anderem deshalb wieder hier in Amman haben, weil Ihr Mr. Ed Hoffman mir in letzter Zeit große Sorgen macht. Ihm vertraue ich nämlich keineswegs.«
»Nach Hoffman dürfen Sie mich nicht fragen. Der sagt niemandem, was er wirklich vorhat, auch mir nicht.«
»Nun, das bezweifle ich. Das bezweifle ich wirklich. Ich vermute, dass Sie eine ganze Menge über Mr. Ed Hoffman und seine Pläne wissen. Sie sind doch schließlich sein Günstling. Wie sagt man? Sein Goldjunge. Und ich möchte mir nicht noch einmal die Finger verbrennen, verstehen Sie? Deshalb mache ich mir Sorgen. Ich höre Ed Hoffmans Schritte, ich spüre seinen Atem im Nacken. Aber ich sehe ihn nicht. Das stört mich. Es bereitet mir Unbehagen.«
»Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen. Sie kennen ja die Regeln.«
»Selbstverständlich, keine Sorge. Ich habe keineswegs vor, Sie zu ‹rekrutieren›. Ich bin nicht so ungezogen wie Ihr Vorgänger, Francis Alderson, der versucht hat, einen Agenten eines befreundeten Geheimdienstes zu bestechen. Diese Befürchtung brauchen Sie bei mir nicht zu haben. Aber ich möchte, dass Sie eines wissen. Wir sind nicht so dumm, wie Sie und Mr. Ed Hoffman offensichtlich glauben. Das meine ich ganz ernst. Den Fehler sollten Sie nicht machen.«
»Ich weiß, dass Sie nicht dumm sind. Ich habe großen Respekt vor Ihnen, das ist die Wahrheit. Sie sind mein Lehrer, ustaas Hani.«
»Das haben Sie wirklich schön gesagt«, erwiderte der Jordanier. »Ich werde diese Freundschaftsbekundung ganz sicher nicht vergessen. In diesem Teil der Welt spielt Freundschaft noch immer eine große Rolle. Aber das wissen Sie ja, schließlich sind Sie selbst ein halber Araber. Das
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