Der Mann, der niemals lebte
möchten wir zumindest gerne glauben.«
Später am Vormittag, als Ferris in seinem Büro in der Botschaft saß und versuchte, die Stapel mit Nachrichten und Berichten abzuarbeiten, die sich während seiner Abwesenheit auf seinem Schreibtisch angesammelt hatten, steckte seine Sekretärin den Kopf zur Tür herein und fragte, ob er schon gehört habe, was in Saudi-Arabien passiert sei. Ferris schüttelte den Kopf.
»Eben sind zwei Bomben in Riad hochgegangen. Eine vor dem Four Seasons, die andere in der Nähe der Ortsfiliale der HSBC.«
»Scheiße.« Ferris schüttelte den Kopf. »Wie viele Tote?«
»Das haben sie nicht gesagt. Es kommt gerade erst in den Nachrichten.«
Ferris schaltete CNN ein und setzte sich an seinen sicheren Rechner. Wie immer hatte der Nachrichtensender im entscheidenden Moment mehr Informationen als die CIA. Ferris rief Hani an, der selbst gerade erst in sein Büro zurückgekommen war. Der Jordanier sagte ihm, er habe bereits überall im Land, wo es möglich war, eine Ausgangssperre angeordnet. Zusätzliche Sicherheitskräfte seien zur amerikanischen Botschaft und allen weiteren potenziellen Anschlagszielen in Amman unterwegs.
Als Nächstes rief Ferris Alice an. Erst versuchte er es unter ihrer Büronummer, und als man ihm dort sagte, dass sie unterwegs sei, rief er sie auf dem Handy an. An den Windgeräuschen erkannte er, dass sie irgendwo im Freien sein musste. Als er ihr erzählte, was in Riad passiert war, schwieg sie ein paar Sekunden lang.
»So etwas wird jetzt immer öfter passieren«, sagte sie schließlich. »Begreifst du das denn nicht? Mailand, Frankfurt, Riad. Afghanistan, der Irak, das Westjordanland. Wir hören nicht auf, also hören die auch nicht auf.«
»Wo bist du?«, fragte Ferris.
»In einem Palästinenserlager außerhalb der Stadt. Ich versuche gerade, einen Computer für die Schule hier zu beschaffen.«
»Ich finde, du solltest nach Hause gehen oder zumindest zurück ins Büro. Draußen ist es heute viel zu gefährlich. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Mir passiert schon nichts. Es ist jeden Tag gefährlich. Und hier sind mehr als genug Leute, die auf mich aufpassen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Weißt du, Roger, gerade an einem solchen Tag sollte ich mich nicht verstecken. Ich muss hier bei den Menschen sein, um ihnen zu zeigen, dass wir nicht alle so verrückt sind, dass ich ihre Freundin bin und mich nicht vergraulen lasse. Bitte sag mir, dass du das verstehst.«
Genau dafür liebe ich sie, dachte Ferris. »Ich verstehe das sehr gut. Ich bin einfach nur besorgt um dich. Dagegen kann ich nichts machen. Ich liebe dich eben.«
»Ich liebe dich auch«, sagte sie zögernd. »Hol mich heute Abend ab, dann koche ich dir was. Wir bleiben bei dir, wenn dir das lieber ist. Und du kriegst auch die Fernbedienung. Wie findest du das?«
»Da geht’s mir doch gleich schon viel besser.« Ferris lächelte. Er wusste ja, dass sie recht hatte. An einem Tag wie diesem musste sie bei ihren arabischen Freunden sein – es sei denn, es war genau der falsche Tag, aber das wusste man immer erst, wenn es zu spät war. Er wandte sich wieder CNN und dem sicheren CIA-Rechner zu und verbrachte den Tag damit, Nachrichten in alle Welt zu verschicken und sich einzureden, damit etwas bewirken zu können. Bei Büroschluss war bekannt, dass neunzehn Menschen vor dem Hotel und weitere zwölf vor der Bank ums Leben gekommen waren. An einem solchen Tag lief man praktisch auf Autopilot und absolvierte eine Reihe festgelegter Tätigkeiten, als folge man einem Drehbuch.
Ferris machte sich zwar Sorgen um Alice, doch auch seine eigene Achterbahnfahrt näherte sich langsam ihrer kritischen Phase. Der lange, schleppende Anstieg lag hinter ihm, der Wagen hatte den höchsten Punkt schon fast überschritten, und nun war alles nur noch eine Frage von Schwung und Schwerkraft. Auch wenn Alice sich mit jedem Palästinenser auf Erden gut stellte, konnte sie Süleyman damit trotzdem nicht aufhalten. Diesen Mann musste Ferris eigenhändig erledigen. Er musste einen Weg ins Innere seines Netzwerks finden, sich in dessen Blutkreislauf einschleusen und es von innen heraus zerstören. Wenn ihm das nicht gelang, würde das alles niemals aufhören.
Beirut /Amman
Omar Sadiki wirkte ein wenig eingeschüchtert, als er in Ferris’ Suite im Hotel Phoenicia eintraf. Das Hotel, das sich inmitten der Ruinenlandschaft von Beirut seinen Glanz bewahrt hatte, schien den Jordanier zu beeindrucken.
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