Der Mann, der niemals lebte
Fahrzeug abgeholt wurde. Außerdem hatten die Sicherheitsbeauftragten neue Verhaltensregeln für den Fall einer atomaren oder biologischen Verseuchung der Botschaft herausgegeben und innerhalb des Gebäudes spezielle Schutzräume eingerichtet. Die Auswirkungen dieser neuen Sicherheitsmanie sah man den Leuten an den Augen an: Obwohl sie versuchten, den normalen Botschaftsbetrieb aufrechtzuerhalten, zwinkerten sie doch nervös, sahen sich nicht in die Augen und zuckten bei jedem ungewohnten Geräusch zusammen. Sie alle legten die gespielte Unbekümmertheit von Menschen an den Tag, die wissen, dass sie zur Zielscheibe geworden sind.
Trotz des Flehens seiner Sekretärin, die noch einen ganzen Stapel Korrespondenz mit ihm durchgehen wollte, verließ Ferris das Büro schon um halb fünf. Er wollte vor seiner Verabredung mit Alice noch ein Nickerchen machen. Zu Hause legte er sich hin, war dann aber viel zu aufgedreht zum Schlafen und sah sich stattdessen ein Fußballspiel aus Katar im Fernsehen an, bis es Zeit war, sich fertig zu machen. Auf dem Weg zu Alices Wohnung ging er noch in einen Blumenladen und ließ sich einen kunstvollen Strauß aus Orchideen und riesigen Lilien zusammenstellen, der eigentlich viel zu protzig für eine Frau wie Alice war, aber dennoch eine Aussage machte. Der Blumenhändler brauchte eine halbe Ewigkeit, um die Blumen zu arrangieren, fügte gemächlich immer wieder einen neuen Farnzweig hinzu, besprühte das Ganze mit Glanzlack und band so viele komplizierte Schleifen und Schnüre darum, dass Ferris sich schon fragte, ob Alice die jemals wieder aufbekommen würde. Er sah auf die Uhr und murmelte, er sei bereits spät dran, doch der Blumenhändler schenkte ihm nur ein vielsagendes Lächeln und widmete sich dann wieder seinem Kunstwerk.
Alice wohnte in einem alten Steinhaus, das noch aus osmanischer Zeit stammte. Damals musste es einem wohlhabenden Kaufmann gehört haben, denn die Steine und Fliesen waren von bester Qualität. Ferris ging die Treppe in den zweiten Stock hinauf und klopfte an eine Tür, die in fröhlichen Pastellfarben gestrichen war. Als Alice ihm öffnete, stand er einen Augenblick lang wie erstarrt da und sah sie nur bewundernd an. Ihr Gesicht strahlte, ihre Haut wirkte weich und glatt. Sie hatte sich das blonde Haar im Nacken zusammengebunden, sodass ihr zarter Hals freilag, und in ihren großen, haselnussbraunen Augen lag eine freudige, spielerische Erwartung. Sie trug ein schwarzes Kleid mit rundem Ausschnitt, das ihre Figur gut zur Geltung brachte.
»Hallo«, sagte sie sanft, bedachte ihn mit einem bezaubernden Lächeln und nahm ihn bei der Hand.
»Du siehst einfach … umwerfend aus«, sagte Ferris. Er blieb mit seinem riesigen Blumenstrauß in der Hand etwas benommen in der Tür stehen.
»Die sind ja allerliebst«, sagte sie und nahm ihm die Blumen ab. Ihr Ton klang ein wenig spöttisch. Dann zog sie ihn am Arm in die Wohnung. »Setz dich jetzt erst mal ins Wohnzimmer, während ich sie ins Wasser stelle.« Sie riss die kunstvoll arrangierte Folie einfach ab, warf sie in den Müll und machte sich dann auf die Suche nach einer Vase, die groß genug war für den mittleren Zierwald, den Ferris da angeschleppt hatte.
Die Wohnung war ein orientalisches Schmuckkästchen: Sie enthielt Schätze, mit denen ihr ursprünglicher Besitzer sie vor langer Zeit einmal ausgestattet hatte und die ein heutiger Besucher von außen nie erahnen konnte: Wände und Decken waren mit zarten Holz-, Perlmutt- oder Blattgoldintarsien verziert, und es gab ein paar wunderschöne Wandmalereien, die Sehenswürdigkeiten aus der arabischen Welt zeigten: den wimmelnden levantinischen Hafen von Alexandria, den schneebedeckten Berg Libanon, die goldene Kuppel der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem, die üppigen Felder der Ebene von Damaskus. An der Wand gegenüber ging eine Reihe von Bleiglasfenstern auf einen Garten hinaus, in dem ein kleiner, von Blumen und Büschen umgebener Springbrunnen plätscherte. Manche der Blumen blühten selbst jetzt, im November. Von irgendwo erklang gedämpfte arabische Musik, und als Ferris genauer hinhörte, erkannte er die Stimme der libanesischen Sängerin Fairuz, die vom längst vergangenen, glücklichen Leben in arabischen Dörfern sang, so schön, dass sie angeblich allen Männern und Frauen, die ihr zuhörten, die Tränen in die Augen trieb. Alice kam wieder aus der Küche. Sie hatte das Blumenmeer in einer übergroßen Vase untergebracht.
»Was für eine erstaunliche
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