Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
wie Shipshewano ihn auf die Spuren an der Böschung aufmerksam gemacht hatte.
»Indianer?«, fragte sie, gerade als Hollis aus dem Wald geflitzt kam und erschöpft hechelnd bei Tom stehen blieb.
Tom kraulte ihm den Nacken, dann stand er auf und folgte dem Waldweg bergauf. »Ja. Und wehe, du schreibst über diese Indianer.« Er drehte sich um, richtete drohend den gestreckten Zeigefinger auf sie und lief rückwärts weiter. »Ich mein es ernst!«
Irritiert blickte Becky von ihm in die andere Richtung, bergab, wo der Waldweg schon bald breiter wurde. »Wo willst du hin? Die Spuren des Karrens führen doch in die Stadt. Willst du ihnen nicht folgen?«
Tom hatte sich wieder umgedreht und war weitergelaufen. Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Und warum nicht?«
»Weil wir beide wissen, wo diese Spuren enden, und weil ich mir noch etwas anderes ansehen muss.«
»Was willst du dir ansehen?«
Tom blieb stehen und drehte sich nochmals um. »Den Ort, wo wir zwei fast gestorben wären.«
~~~
»Lass uns gehen, Tom. Ich finde es unheimlich hier.«
»Das kann dir niemand verdenken.«
Sie standen vor der wuchtigen Eichentür, die den Höhleneingang seit mehr als fünfzehn Jahren verschloss. Das Portal der Höhle bildete ein großes »A« aus Stein, und schon bevor Tom und Becky sich damals bei einem Ausflug in der Höhle verlaufen hatten und drei Tage in ihr herumirrten, bis es Tom gelang, einen zweiten Ausgang zu finden, war hier eine Tür gewesen. Niemand wusste so recht, warum. Aber nach dem Vorfall, bei dem seine Tochter fast gestorben wäre, hatte Richter Thatcher die Türe zusätzlich mit Eisen beschlagen und drei Schlösser anbringen lassen.
Und niemand hatte die Tür geöffnet, sie war fest verschlossen.
Tom untersuchte den Boden vor dem Höhleneingang, aber es schien so, als wäre seit Menschengedenken niemand mehr hier gewesen. Efeu überwucherte die Tür und die Felswände darum herum, und kleine Bäume waren in dem flachen Bereich vor dem Eingang gewachsen. Keiner davon war umgeknickt, keine Fußspuren, nichts. Auch die Schlüssellöcher der drei Schlösser wiesen keinerlei Kratzspuren auf. Die Scharniere waren rostig und halb zerfressen, und wenn jemand die Tür in letzter Zeit geöffnet hätte, wären Krümel und rostroter Staub direkt unterhalb der Scharniere auf den felsigen Boden gerieselt.
Becky stand etwas abseits, hatte die Arme vor der Brust verschränkt, als wäre ihr kalt. Tatsächlich fiel wenig Sonnenlicht in das enge Tal, fast schon eine Schlucht, die hinter dem Mount Oliver zur McDouglas-Höhle führte.
»Lass uns gehen, Tom«, sagte sie noch einmal. »Ich will hier nicht sein, und ich muss die Zeitung fertig machen. Wir müssen die Pferde holen.«
Tom stand auf. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte an der schroffen Felswand hinauf, die sich vierzig Fuß hoch über dem Portal erhob. Dann drehte er sich um und ließ den Blick über die dicht stehenden Bäume und Büsche und über die grau schimmernden Felsen schweifen, die zwischen den Bäumen aufragten wie hineingequetscht.
Einen toten Hund würde er hier nicht finden. Und er bezweifelte, dass es Sinn ergab, nach dem zweiten Eingang der Höhle zwei Meilen südöstlich am Mississippi-Ufer zu suchen. Außer Huck kannte kaum jemand diesen schmalen Spalt in den Felsen am Ufer, den Tom damals, nach drei Tagen in vollkommener Dunkelheit und kurz vor dem Verhungern, entdeckt hatte und durch den er mit Becky zurück in die Freiheit geklettert war. Er wusste nicht einmal mehr, ob er irgendjemandem davon erzählt hatte außer Huck, geschweige denn, ob er diesen Eingang heute noch wiederfinden würde. Und es schien auch wenig wahrscheinlich, dass sein »Dämon«, der »Hüter des Lichts«, die Frauen, die er entführte, durch eine enge Felsspalte in die Höhle geschleppt hatte, durch die gerade einmal ein Kind passte. Wenn er sie überhaupt irgendwohin geschleppt hatte und Debbie Chisholm nicht nur verrückt war. Für diesen Zweck gab es einfachere Verstecke. Nur wo?
»Können wir gehen, Tom? Bitte.«
Bitte? Überrascht blickte Tom auf. Becky war blass, die Erinnerung an das Drama vor fünfzehn Jahren zerrte offensichtlich an ihren Nerven. Er nickte, pfiff nach Hollis, der irgendwo zwischen den Bäumen Waschbären jagte, und sie schlugen den Rückweg ein.
Wenige Schritte später, als der Höhleneingang außer Sichtweite war und Hollis wieder fröhlich kläffend um sie herumsprang, kehrte die Farbe in Beckys Wangen zurück, und sie
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