Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman
hakte sich bei Tom unter. Was wohl Sid und ihr Vater sagen würden, wenn sie sie so sähen?
Außerdem missfällt mir, wie viel Zeit Tom mit Becky verbringt. Ich muss mit Sidney sprechen. Und rede mit unserem Mann …
Er würde Becky von dem Treffen zwischen ihrem Vater und Joe Harper erzählen müssen, das er vor drei Tagen belauscht hatte.
Thatcher. Sid. Und Joe Harper.
Thatcher hatte außerdem gesagt, Tom sollte sich nicht dafür interessieren. Und er sprach von unserem Mann . Was war es, wofür Tom sich nicht interessieren sollte? Und hatte es etwas mit Polly zu tun? Und war ihr Mann der Sondergesandte?
»Was ist los, Tom? Denkst du darüber nach, wie du mir am besten von deiner Zeit bei Lincoln erzählst?«
Sie lächelte ihn an, und Tom bemerkte erst jetzt, dass sie seit einer ganzen Weile schweigend und untergehakt nebeneinanderher gegangen waren wie ein altes Ehepaar.
»Ja, genau darüber denke ich nach. Sobald du deinen Teil der Abmachung erfüllst.«
Sie boxte ihn spielerisch in die Seite. »Du bist ein Idiot.«
»Ich weiß. Und ich kann so stur sein wie ein Maulesel.«
Becky seufzte, dann straffte sie sich, löste ihren Arm von seinem und zückte ihr Notizbuch. »Also gut. Wollen wir doch mal sehen, es war am …« Sie blätterte die Seiten durch, bis sie fast am Anfang des schmalen Büchleins angelangt war. »Genau. Am 18 . Juli. Vor ziemlich genau einem Jahr. Das Sommerfest, du weißt schon. In der Stadt wird eine Tanzbühne aufgebaut, es gibt Marktstände, und die Farmer aus dem Umland kommen nach St. Petersburg, um sich zu betrinken und um ihren Frauen einen Strohhut zu kaufen.«
»Ist es das, was Sid gemacht hat? Er hat dir einen Strohhut gekauft? Das hat gereicht?« Er grinste sie schelmisch an, und wieder boxte sie ihn.
»Au!«
»Halt die Klappe, und unterbrich mich nicht. Du wolltest es wissen, also hör zu.
Es ist also Juli, und es ist ein wunderschöner lauer Abend nach einem furchtbar heißen Tag. In der ganzen Stadt hat man Laternen aufgehängt, eine Kapelle spielt auf dem Broadway. Fahnen hängen an den Türen, Girlanden schmücken die Häuser, und der Krieg ist einen Abend lang fast vergessen oder zumindest verdammt weit weg. Ich steh bei Calhoun am Getränkestand, wo es Erdbeerbowle gibt, und gönne mir nach einem harten Tag im Lazarett –«
»Du hast im Lazarett gearbeitet? Hier? In St. Petersburg?«
»Ja, und jetzt halt die Klappe. Ich steh also da und gönne mir ein Glas Erdbeerbowle, und da kommt dein Bruder und fragt mich, ob ich tanzen will. Einfach so. Bis zu diesem Tag haben wir uns freundlich gegrüßt und uns nach der Kirche unterhalten und auch auf der Straße, wenn wir uns getroffen haben. Aber an diesem Abend fragt er mich, ob ich tanzen will. Und die Kapelle spielt gerade Aura Lee , und ich denke mir: Warum eigentlich nicht? Und dann haben wir getanzt. Und …« Ihr Gesicht bekam einen verträumten Ausdruck, der Tom ganz und gar nicht gefiel.
»Und was?«, fragte er schroff.
»Und Sidney ist ein beeindruckender Tänzer.«
Tom blinzelte. Das war ihm neu. »Und dann? Ich meine, war’s das? Da muss doch mehr gewesen sein.«
»Vielleicht.« Becky grinste verschmitzt.
»Vielleicht? Du musst mir schon sagen, was da war, sonst –«
»Nein! Erst du.« Beckys Stimme war schneidend, ihr Gesicht fror ein, und Tom stellte sich vor, dass sie so auch aussah, wenn sie mit ihren Händlern um Druckerschwärze feilschte. Er seufzte.
Sie kamen an die Stelle, wo der Trampelpfad, auf dem Jebs Leiche den Hang hinabgeschleift worden war, auf den Waldweg zur Höhle traf, und schlugen den Weg bergauf ein. Tom schwieg, und Becky wollte gerade etwas Bissiges bemerken, als er anfing zu erzählen.
»Es begann alles in Chicago. Da waren Hunderte, ach was, Zigtausende wie ich. Jung, vom Land und auf der Suche nach Arbeit. Wie alle hab ich mich herumgetrieben, in den Schlachthöfen gearbeitet, als Laufbursche, als Packer, an den Docks, such es dir aus; ich hab alles gemacht, wofür man ein paar Cent, etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen bekommt. Ich hab das schon ein Jahr durchgehalten, es war die Hölle, und ich war schon kurz davor, aufzugeben und wieder hierher zurückzukommen, da ist plötzlich über Nacht alles anders geworden. Buchstäblich über Nacht.«
Während er tagsüber im Schlachthof schuftete, so fuhr er fort zu erzählen, arbeitete er nachts am Eisenbahndepot der Fort Wayne und Chicago Railroad an der Davidson Street als Nachtwächter. Schlecht
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