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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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verdonnert, was zu diesem Zeitpunkt der wohl langweiligste Job war, den man sich vorstellen konnte. So kann man sich irren.«
    Tom machte eine Pause, er war außer Atem. Sein Knie tat weh, und er schleppte sich schwitzend den Hang hinauf. Die Erinnerung schmerzte fast noch mehr als das Knie. Er stützte sich an einem Baum ab und atmete durch.
    Becky trat neben ihn. Sie hatte im Gehen in ihr Notizbuch geschrieben. »Auch andere haben sich geirrt. McClellan musste gehen, richtig?«
    Tom nickte. »Ja. Nach der Schlacht von Antietam. Und mit ihm ist Pinkerton auch gegangen. Lincoln hatte die Geduld verloren mit ›Little Mac‹, er musste ihn regelrecht zwingen, anzugreifen, und als McClellan es endlich tat und sogar gelegentlich siegreich war, hat er es versäumt, dem Feind nachzusetzen, weil er immer Angst hatte, sie würden dort irgendwo mit zehnfacher Überlegenheit auf ihn lauern.«
    »Und du bist bei Lincoln geblieben.«
    »Ja.«
    »Warum?
    »Weil er es so wollte. Und ich wollte es auch.«
    »Wie war er? Was war er für ein Mensch?«
    Tom überlegte, dann grinste er. »Also, Siddy ist ein beeindruckender Tänzer, ja? Aber was war da noch an diesem Abend? Irgendetwas muss da doch passiert sein.« Er ging weiter.
    Becky blickte ihm fassungslos nach. »Ein Kuss«, sagte sie, und Tom blieb wieder stehen. »Ein Kuss?«
    Sie nickte. »Er hat mich geküsst. Einfach so. Nach dem Tanz. Ich schätze, er hatte ein bisschen viel Bowle und ich vielleicht auch. Vielleicht war der Abend einfach richtig, mit Musik und Tanz und mit den Nachtfaltern, die um die Laternen herumschwirrten. Ich weiß es nicht. Aber es schien einfach richtig.«
    »Er hat dich also geküsst?«
    »Ja. Hab ich doch gerade gesagt.«
    »Und du hast den Kuss erwidert?«
    Sie holte ihn ein, schob die Unterlippe vor und wiegte den Kopf. »Ja. Kann man so sagen.«
    »Das klingt nicht sehr überzeugt. Also: Hast du ihn nun geküsst oder nicht?«
    Sie riss die Arme hoch und wurde laut. »Was weiß ich, Tom, so genau erinnere ich mich nicht mehr, es ging so schnell. Mein Gott, wir haben getanzt, wir haben gelacht, und er hat mich kurz geküsst. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn auch geküsst habe, warum ist das so wichtig? Hast du denn nie jemanden geküsst, als du in Washington warst?«
    Tom dachte an Alma, die junge Witwe aus der Wohnung unter seiner in Washington, und an ihre seltsame Abmachung, dass er ihr manchmal half und dafür manchmal zu ihr ins Bett stieg. »Doch«, sagte er. »Aber ich war nicht verliebt. Nicht mehr, seit ich St. Petersburg verlassen habe.«
    Becky blieb stehen und schnappte nach Luft. Ihre Augen schimmerten feucht, und Tom war sich einen Moment lang nicht sicher, ob sie gleich weinen oder ihm wieder eine Ohrfeige verpassen würde. Sie tat keines von beidem, stattdessen sagte sie ganz ruhig und leise: »Vielleicht war er einfach da, Tom. Vielleicht war er da und machte nicht den Eindruck, er würde plötzlich abhauen.«
    Er senkte den Kopf. Natürlich. Sid würde nicht plötzlich abhauen, das stimmte wohl. Der Wunsch, sie zu berühren und sie an sich zu drücken, wurde beinahe übermächtig, und Tom verschränkte die Finger wie zum Gebet, um sich davon abzuhalten.
    Was tun? Was sagen?
    »Becky, da ist etwas, worüber ich mit dir sprechen muss.«
    Sie hob die Hand, blinzelte. »Tom, ich weiß nicht, ob ich das jetzt –«
    »Warte. Es geht um deinen Vater.«
    Überrascht hob sie den Kopf. »Um meinen Vater?«
    »Und um Sid. Und um Joe Harper. Vor drei Tagen hab ich deinen Vater in der Nacht … belauscht. Er saß mit Joe in dessen Büro. Sie hecken irgendetwas aus. Sie warteten auf irgendeinen Mann. Es gefällt ihnen nicht, dass ich Fragen stelle; irgendwie hat es auch mit Sid zu tun, ich weiß nicht genau, wie, aber …«
    »Hör auf damit!«
    »Womit?«
    Beckys Mund wurde zu einem Strich, und sie lief rot an. »Hör sofort auf, Sid wegen irgendwas anzuschwärzen. Ich weiß, was du vorhast!«
    »Becky, ich –«
    »Rebecca! Und lass meinen Vater aus dem Spiel! Ich weiß ja, dass du Ärger mit Joe Harper hast, aber warum musst du –«
    »Ich schwöre dir, ich hab sie gehört und –«
    »Das hat doch nichts mit uns zu tun! Das kannst du doch nicht vermischen, nur damit ich dich … dich –« Sie stockte, ruderte verzweifelt mit den Armen, als ob sie so das Ende ihres Satzes fangen könnte, ließ sie dann kraftlos sinken und seufzte: »… wieder lieben könnte.«
    Sie schwiegen beide. Die Stille im Wald wurde nur unterbrochen von

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