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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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auf.
    Tom schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Wenn es Spuren gab, dann sind sie jetzt alle zertrampelt.« Er schwang die Füße über den Zaun, kniete sich neben die Vertiefung, wo Jebs Körper gelegen hatte, und nahm den Boden noch einmal in Augenschein.
    »Aber ich denke, man kann davon ausgehen, dass der Mörder Jeb hier nur hergebracht hat, um ihn loszuwerden. Er ist nicht hier umgebracht worden, sonst wäre da mit Sicherheit noch mehr Blut. Matsch hin oder her.«
    Becky notierte auch das. »Dann suchst du jetzt als Nächstes den Ort, an dem er umgebracht wurde?«
    Tom seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich bin mir ja noch nicht einmal sicher, dass dieser Mord hier irgendwas mit dem Mord an Tante Polly zu tun hat. Vielleicht war es ja Dale. Die beiden waren besoffen, haben gestritten, und Dale hat ihn erledigt. Und ich habe ein halbes Dutzend andere Dinge, die ich dringend erledigen muss, um bei Tante Pollys Sache weiterzukommen.«
    Andere Dinge.
    Das Gespräch mit Sid, mit Sally Austin, mit Huck; dann Pollys Gärtchen, das Gelände um die McDouglas-Höhle, wo Shipshewano den toten Hund gefunden hatte, und irgendetwas mit einer Tür und einer Schiefertafel, auf das er ums Verrecken nicht kam.
    Becky spielte mit einem welken Blatt, das sie vom Boden aufgehoben hatte, und fächelte sich gespielt Luft damit zu. »Und du schuldest mir noch ein Interview, Tom. Über die letzten Stunden unseres Präsidenten. Das verspreche ich meinen Lesern schon seit Tagen, und sie sind ganz heiß darauf.«
    Tom seufzte. »Ja. Das bekommst du. Aber nicht jetzt.«
    Er stand auf und trat zu ihr an den Zaun. Hollis schwänzelte um ihre Füße. Isaac stand immer noch genau an der Stelle, wo Tom ihn zu warten gebeten hatte.
    Becky pustete gegen das Blatt und kniff die Augen gegen die Sonne zu. »Wie war er, Tom? Präsident Lincoln, meine ich. War er so steif, wie die Fotografien ihn zeigen? So ein Typ wie Hayward?«
    Tom schüttelte den Kopf. Er folgte mit dem Blick den Gleisen, die am Mississippi entlang am Horizont verschwanden. »Nein. Ganz anders. Hayward will würdevoll wirken. Lincoln war es wirklich. Er war würdevoll und weise. Er hat eine riesige Last auf den Schultern getragen, und die große Verantwortung für unser Land war ihm immer bewusst. Trotzdem hat er nie versucht, die Last oder die Verantwortung auf irgendjemand anders abzuladen. Deswegen wirkte er vielleicht steif auf den Bildern. Weil er so viel zu tragen hatte. Er war ein guter Mann. Ein sehr guter Mann.«
    Ihr Grinsen erstarb, und sie schwieg. Tom blinzelte und schämte sich ein wenig, weil seine Stimme bei den letzten Worten brüchig geworden war. Sie blickten einander schweigend an, bis die Stille bedrückend wurde. Beckys Lippen schimmerten in einem sanften Rosa. Es erschien Tom fast unnatürlich, dass er sich nicht augenblicklich vorbeugte, sie in den Arm nahm und sie küsste. Er wusste, dass er etwas sagen musste, damit der Moment endlich vorüberging. Doch dann war es Becky, die anfing zu sprechen. »Tom, das in Marion City … vor dem Haus deiner Eltern …«
    Er senkte den Blick. Sie hielt das Blatt noch in der Hand. Irgendetwas stimmte nicht. Er schüttelte den Kopf.
    Hastig setzte Becky hinzu: »Sag jetzt nichts, in Ordnung? Ich weiß, du musst denken, dass ich seltsam bin, weil ich dich schließlich auch geküsst habe … also mich nicht gleich gewehrt habe und –«
    »Wo hast du das her?«
    Becky schüttelte verwirrt den Kopf.
    Tom deutete auf das Blatt in ihrer Hand. »Das Blatt da. Wo ist das her?«
    Becky deutete verwirrt vor sich auf den Boden. »Das lag da. Bei dem Pfosten. Warum?«
    Tom nahm ihr das Blatt aus der Hand. Es war eiförmig, mit deutlichen Rippen und einem roten Stängel. Winzig kleine Blutspuren waren darauf zu erkennen. Tom blickte sich um. Eine halbe Meile in jede Richtung war kein Baum zu sehen. Bahngleise, Schuppen, Schlamm, Backsteingebäude und der große braune Fluss. Aber kein Baum.
    »Was ist? Was ist mit dem Blatt?«
    »Es ist nicht von hier. Und Mr Dobbins wäre stolz auf mich.«
    Tom schwang sich über den Zaun auf Beckys Seite und ging in die Hocke. Er suchte die Stelle direkt beim Pfosten ab. Ein weiteres Blatt steckte zwischen zwei Brettern. Grün, eiförmig, deutliche Rippen, roter Stängel.
    »Dobbins? Was hat das mit unserem alten Lehrer zu tun?«
    Tom erhob sich und zwirbelte das Blatt zwischen den Fingern. » Das ist ein Blatt der Aesculus pavia, der echten Pavie . Und ich weiß sogar, wo sie wächst.«
    ~~~
    Es

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