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Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman

Titel: Der Mann, der niemals schlief: Ein Tom-Sawyer-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon X. Rost
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ihm Geld.«
    »Geld? Was?« Becky schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften.
    Tom blickte über die Schulter zu Shipshewano. »Wie viel schulde ich dir, Häuptling?«
    »Fünfzig Dollar.«
    »Fünzig? Herr im Himmel, Häuptling! Ich hatte noch etwas von dreißig im Ohr.«
    »Kleider von Vater kosten auch Geld. Oder willst du hier zurückgeben, Tom Sawyer?«
    Tom nickte Becky aufmunternd zu. »Gib es ihm.«
    Sie rührte sich nicht, starrte ihn nur fassungslos an.
    Tom seufzte. »Bitte! Ich habe keinen Cent mehr. Du bekommst es zurück, in Ordnung?«
    Becky schnaubte, ging aber zu ihrem Tresor, der gut versteckt zwischen Stößen alter Zeitungen an dem gemauerten Kamin in der Mitte der Redaktionsstube festgeschraubt war. Während sie die Zahlen an dem Rädchen eingab, betrachtete Pepinawah mit großen Augen die Druckerpresse, tippte andächtig und ganz vorsichtig auf die Zahnräder und Walzen, als könnte sich das Ungetüm jeden Moment in Bewegung setzen.
    Der Junge hatte Tom als Erster entdeckt, als der vor knapp drei Stunden ins Lager der Potawatomi gekommen war. Tom hatte das Versteck auf der Insel verlassen, das Ruderboot genommen und sich drei Meilen stromabwärts treiben lassen. Dann war er an Land gerudert und hatte das Ruderboot zwischen den Bäumen am Ufer vertäut. Zwei Stunden war er landeinwärts gegangen, hatte sich am Mond und an den Sternen orientiert, bis ihm das Gelände vage vertraut vorkam und er das Lager der Potawatomi wiederfand. Oder das Lager hatte ihn wiedergefunden, wie man’s nahm.
    Als er gerade den Bach überquerte, in dem Kewanee ihn gezwungen hatte, ein Bad zu nehmen, war Pepinawah im Mondlicht vor ihm aufgetaucht. Er hatte Toms Atkinson-Messer in der Hand und schien bereit, sich auf ihn zu stürzen. Dann hatte er Tom erkannt und nach seinem Vater gerufen.
    Wenig später hatten sie um das Feuer im Kreis der Hütten gesessen. Neben den Hütten hatte Tom mehrere Travois entdeckt, Schlepptragen aus Tipistangen. Shipshewano plante bereits den Aufbruch seiner Sippe, wie es schien. Tom hatte um Hilfe gebeten, und Shipshewano hatte sie ihm zugesagt. Gegen Bezahlung, natürlich.
    Bezahlung, die er nun entgegennahm.
    Der Häuptling zählte die Scheine, die Becky ihm in die Hand drückte, langsam ab, dann stopfte er sie in seinen Lederbeutel. »Wir noch eine Weile in St. Petersburg. Wir kaufen Vorräte in Drugstore. Du sie schicken, wenn du Hilfe brauchen.«
    Shipshewano zeigte mit dem Finger auf Becky, als wäre die ein Maulesel, den man nach Gutdünken zur Arbeit einsetzen könnte.
    Bevor Becky noch etwas erwidern konnte, sagte Tom: »Mach ich. Vielen Dank, Häuptling. Ich stehe in deiner Schuld.«
    Shipshewano sagte etwas zu seinem Jungen, dann verließen die Indianer das Redaktionsbüro. Tom stand am Fenster und spähte auf die Main Street. Das Dutzend Männer, die eben noch vor dem Büro des Sheriffs gestanden hatten, zogen an ihm vorbei, teilten sich in kleine Grüppchen auf und zerstreuten sich in den Straßen der Stadt.
    »Joe Harper ist nicht dabei«, murmelte Tom. Vom Fluss her hörte er Kanonendonner, und ein Schauder der Erinnerung überlief ihn. Er nahm an, dass die Männer des Sheriffs eine der Kanonen, die noch vom Krieg übrig waren, aus einer Scheune geholt und auf ein Dampfschiff geladen hatten, um sie dort auf dem Fluss abzufeuern. Angeblich brachte die Druckwelle Leichen, die im Fluss trieben, wieder an die Oberfläche. Hucks Leiche, seine Leiche, von denen sie meinten, dass die dort irgendwo waren. Vielleicht würde man auch mit Quecksilber versetzte Brotlaibe in den Fluss werfen, weil die Leichen genau dorthin schwammen. Das sagte man zumindest.
    Aber wie lange würden sie es versuchen, bevor sie aufgaben?
    Tom kaute nachdenklich auf der Innenseite seiner Wange. Vermutlich nicht allzu lange. Und vermutlich würde es nicht allzu lange dauern, bis sich jemand an den Zufluchtsort ihrer Kindheit erinnern und auf der Insel nach ihnen suchen würde. Vermutlich wäre es Joe Harper selbst, der sich daran erinnern würde. Vielleicht würden sie auch die Kindergräber entdecken.
    Das würde alles nur noch schlimmer machen. Viel schlimmer.
    Tom hoffte, dass Huck sich an die Abmachung hielt und in der kleinen Höhle blieb, die er, bevor er die Insel verließ, hinter einem dichten Vorhang aus Ästen und Zweigen versteckt hatte.
    »Käferchen, Käferchen, fliege schnell heim, dein Haus steht in Flammen, deine Kinder sind allein.« Leise wisperte Tom einen Aufzählvers aus

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